# taz.de -- Sibirische Zwiebeln kommen als erste
       
       > Der Boden Brandenburgs ist so sandig, man könnte ihn mit einer
       > Kuchengabel umgraben. Was wächst hier eigentlich?
       
       Von Philipp Maußhardt (Text) und Karoline E. Löffler (Illustration)
       
       Brandenburg ist auf Sand gebaut. „Sandbüchse“ nennen sie hier ihr Land
       scherzhaft, du kannst den Spaten mit dem Daumen in die Erde drücken, so
       leicht geht das. Gar nicht lustig findet das Tom, der Totengräber. „Wenn du
       die Grube nicht abstützt, fällt dir das alles wieder zusammen, noch bevor
       der Sarg drin ist.“
       
       So hat eben alles seine Vor- und Nachteile. Einer der Vorteile des
       Brandenburger Sandbodens ist seine leichte Bearbeitung. Neulich zum
       Beispiel habe ich an einem Tag 90 Pflanzlöcher für Weinreben gegraben.
       Dafür hätte ich in Schwaben eine Woche gebraucht. Zeit gespart, der Schwabe
       freut sich.
       
       Aber nochmals zu Tom. Der gräbt nicht nur Tote unter die Erde, der holt
       auch ganz vieles aus ihr heraus. Tom ist Gärtner, Jäger, Sammler, Pflanzer
       und Begraber, ein erdverwachsener Brandenburger, jung und groß und stark
       und meistens gut gelaunt. Wann immer ich etwas wissen will über Pflanzen
       und Tiere, rufe ich Tom an. So wie am vergangenen Wochenende. „Tom, gibt es
       hier irgendwo Bärlauch?“
       
       Ich hatte nirgendwo welchen gefunden, war stundenlang durch die
       Kiefernwälder gestromert, aber da war nichts. In manchen Gegenden
       Süddeutschlands kannst du mit der Sense durch den Wald laufen, so schießt
       das Kraut im April aus dem Boden. Sand mag der Bärlauch offenbar nicht. „Du
       musst die Straße nach Alt-Eldenburg nehmen, dahinter kommt das ehemalige
       Forsthaus, dort findest du Bärlauch. Aber sag nicht, woher du das weißt.“
       Mach ich ja auch nicht, ich schreib’s ja nur (typisch Brandenburger Humor).
       
       Tatsächlich stand da Bärlauch. Nicht viel, aber genug, um ein paar Gläser
       Pesto damit zu füllen. Wissen, wo’s was gibt – das ist der Schlüssel zum
       Geheimnis der Brandenburger Küche. Anfangs dachte ich, die kaufen ihr
       Gemüse alle bei Norma oder Netto. Das sind schließlich die einzigen
       Lebensmittelhändler im nächsten Städtchen. Dabei habe ich vieles einfach
       falsch gedeutet. Wie die Tomaten, Kartoffeln und Gurken, die sie in der
       Tankstelle anbieten. Ich dachte, die Kleingärtner verkaufen hier ihr
       Gemüse. Gute Idee. Und jedes Mal beim Tanken nahm ich was mit. Bis Tom mir
       sagte, dass diese Tomaten von der Tankstelle auch aus dem Supermarkt
       stammen und der Tankwart sie nur mit etwas Aufpreis dort verkauft.
       
       Verstehe einer die Brandenburger. „Det verstehst du nicht, wie es hier
       läuft. Det ist ne Schattenwirtschaft, wie früher. Komm mal in meinen
       Garten, dann erklär ich dir das“, sagte Tom. Vor ein paar Tagen bin ich
       dann dort hingefahren, in die Kleingartenanlage „Gemischte Sparten“. Toms
       Garten sieht auf den ersten Blick aus wie eine Mischung aus Baustelle,
       Abenteuerspielplatz und Gärtnerei. Wir laufen über einen Weg aus
       Rindenmulch, vorbei an einem Steinhaufen („für die Eidechsen“) und einem
       verrotteten Baumstamm („für die Insekten“) zu einer kleinen Hütte („für
       mich“). Überall sind Beete, aus denen die ersten grünen Sprösslinge
       herauslugen, irgendwo läuft eine Sprinkleranlage.
       
       „Also jetzt sieht man natürlich noch nicht allzu viel“, sagt Tom, zeigt auf
       ein paar dünne Stengelchen – „Kanadischer Lauch“ –, läuft über ein
       Holzbrett zum nächsten Beet – „fünf alte deutsche Zwiebelsorten“ – zu einem
       Gewimmel aus dicken grünen Stangen: „Die Sibirischen Zwiebeln kommen immer
       als Erste.“ Dann nimmt er ein Messer und scheidet mir einen ganzen Arm voll
       ab. Nach einer halben Stunde in Toms Garten schwirrt mir der Kopf.
       Nana-Minze, Sonnenhut, Kamtschatka-Beere („wir sagen Penisfrucht dazu“),
       Eberraute, zwanzig Sorten Kartoffeln, Möhren, Salat aller Sorten, Erbsen,
       Bohnen, „dort hinten ist für die Kürbisse reserviert“, dann stehen wir vor
       einem Beet mit grünem Spargel.
       
       Sand und Spargel verstehen sich bestens. Als die Prignitz noch mitten in
       Deutschland lag, noch nicht Sperrgebiet war, mit Schlagbäumen abgeriegelt –
       „und jeden Schulbus hamse nach Republikflüchtlingen abgescannt“ –, da
       brachte im April die Eisenbahn jeden Morgen den frisch gestochenen Spargel
       auf den Großmarkt nach Hamburg. Die Eisenbahnschienen liegen heute irgendwo
       in Russland, die Eisenbahnbrücke über die Elbe haben amerikanische
       Fliegerbomben zwei Wochen vor Kriegsende versenkt. Sie wurde nie wieder
       aufgebaut. Heute gibt es Spargel aus der Prignitz nur noch bei Tom und in
       ein paar anderen privaten Gärten.
       
       Sandiger Boden ist für den Gartenfreund zwar bequem zu bearbeiten, man kann
       ihn quasi mit der Kuchengabel umgraben. Aber weil er wenig Nährstoffe
       speichert und im Sommer schnell austrocknet, ist er für einige Gemüsearten
       untauglich. Schwierig ist der Sandboden beispielsweise für Rhabarber und
       alle Kopfkohlarten, auch Knollensellerie wächst nur als Bonsai-Ausgabe,
       Erd- und Heidelbeeren dagegen gedeihen prächtig, genau wie Teltower
       Rübchen. „Du musst“, sagt Tom, „Setzlinge aus einem schlechten Boden
       nehmen, dann wird das was. Kartoffeln aus einem fetten Humusboden, die
       brauchst du hier nicht einpflanzen. Die verhungern.“
       
       Man versteht manches eben erst, wenn man eine Weile hier ist. Und vor Toms
       Gartenhütte sitzt, dem Rasensprenger lauscht und sich Geschichten erzählen
       lässt.
       
       Ein Schwabe in der Prignitz 
       
       Kulinarisch wurde unser Autor in Frankreich und Süddeutschland
       sozialisiert. An dieser Stelle berichtet er einmal im Monat, wie er sich
       die Lebensmittelrealität Brandenburgs erschließt.
       
       4 May 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Philipp Mausshardt
       
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