# taz.de -- Interview zum 8. März in der Türkei: „Feministin zu sein ist revolutionär“
       
       > Die konservative Regierung drängt Frauen zurück in die Familien, sagt die
       > feministische Soziologin Feryal Saygılıgil. Doch die Frauenbewegung ist
       > stark.
       
 (IMG) Bild: „Wie sollten die Frauen nicht auf die Straße gehen“, fragt Feryal Saygılıgil
       
       Am 8. März gehen in der Türkei jedes Jahr zehntausende Frauen auf die
       Straße. Ihr Protest ist laut, stark und nicht zu übersehen. Gleichzeitig
       ist in den vergangenen Jahren in der Türkei einiges passiert: Während 2011
       in Istanbul das „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung
       von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ unterzeichnet wurde, auch
       bekannt als die Istanbul-Konvention (die Türkei gehörte sogar zu den ersten
       Unterzeichnern), versuchte man gleichzeitig in der Türkei, Abtreibung und
       Kaiserschnitt zu verbieten.
       
       In einer Zeit, in der Kopftuch tragenden Frauen der Weg in den öffentlichen
       Raum und ins Parlament geebnet wurde, wurden beim türkischen Fernsehsender
       TRT Frauen zensiert, die Kleidung mit tiefem Dekolleté trugen. Einerseits
       wurden Frauen in öffentlichen Bussen angegriffen, weil sie Shorts trugen
       und andererseits stiegen Frauen aus dem Auto, um einzugreifen, als sie
       Zeuginnen wurden, wie eine Frau auf der Straße zusammengeschlagen wurde.
       
       Die Istiklal-Straße wurde für Protestbewegungen gesperrt und trotzdem
       gingen Tausende von Frauen auf die Straße. In den vergangenen Jahren ging
       es immer einen Schritt voran und zwei zurück. Wir erleben heute eine
       Türkei, die zwar konservativ und religiöser geworden ist, in der männliche
       Gewalt stärker sichtbar ist, in der aber gleichzeitig die Beteiligung an
       den Protestmärschen zum 8. März jedes Jahr steigt, Tausende von Frauen
       nehmen jährlich daran teil.
       
       Um den Zustand zu verstehen, den wir erreicht haben, haben wir mit der
       feministischen Soziologin Feryal Saygılıgil gesprochen. 
       
       taz.gazete: Frau Saygılıgil, am 8. März und am 25. November wird die
       Frauenbewegung in der Türkei am deutlichsten sichtbar. Die Bilder von
       Frauen aus allen Gesellschaftsschichten, die hier auf die Straße gehen,
       bilden nicht nur einen Kontrast zur generellen Entwicklung der Türkei – sie
       erinnern auch an die Hoffnung, dass Wandel jederzeit möglich ist. Warum ist
       der 8. März für die Türkei so wichtig?
       
       Feryal Saygılıgil: Wir haben in der Türkei ein neues „Geschlechtsregime“.
       In den vergangenen Jahren hat die Regierung eine im höchsten Maße geplante
       und konstante Entwicklung zurückgelegt. Die Tatsache, dass Frauenmorde und
       häusliche Gewalt unter dieser Regierung zugenommen haben, dass das
       „Ministerium für Frauen und Familie“ in „Ministerium für Familie, Arbeit
       und Sozialpolitik“ umbenannt wurde, sind Zeichen dafür. Wir haben es hier
       mit einem extrem auf das familiäre Leben fokussierten System zu tun. Es
       handelt sich hierbei um den in der Zeit nach der Französischen Revolution
       als „männliches Bürgertum“ beschriebenen Zustand, übertragen auf das
       hiesige geografische Gebiet. Frauen, die sich dagegen wehren, werden
       entweder geschlagen oder getötet. Wie sollten Frauen da nicht am 8. März
       auf die Straße gehen.
       
       Was verstehen Sie unter dem Begriff „männliches Bürgertum“?
       
       Im männlichen Bürgertum zählten Frauen nicht zu den Staatsbürgern wie die
       Männer, sie waren Mütter. Die Staatsbürgerschaft der Frauen definierte sich
       über die Mutterschaft, deren Ziel im Grunde genommen ausschließlich darin
       bestand, die zukünftige Gesellschaft heranzuziehen. Frauen im Haus
       einzusperren kommt dem Patriarchat sehr gelegen. Wir sehen das heute an den
       Rückschritten in der Sozialpolitik und an den Einschränkungen der
       öffentlichen Ausgaben. Die Pflegearbeit wird den Frauen aufgebürdet, die
       bestehende Sozialpolitik reduziert Frauen auf die Mutterrolle. Es gibt eine
       institutionalisierte Form von Mutterschaft: Frauen wird vorgeschrieben, was
       sie zu tun haben und Frauen wird die Aufgabe der Erziehung und Pflege
       aufgezwungen – das ist eine Politik der Ausbeutung der Frau.
       
       Sie sprechen da von einem 200 Jahre währenden Prozess. Die AKP ist aber
       erst seit 17 Jahren Teil unseres Lebens. Wie kommt es, dass das
       „Geschlechtsregime“ jetzt in der AKP entstanden ist? 
       
       Eigentlich leben wir in der Türkei gerade in einem System des
       „patriarchalischen Kapitalismus“. Die unter der AKP-Regierung stetig
       ansteigende konservative, das Familiäre fokussierende Politik nützt sowohl
       dem Kapitalismus, dem Patriarchat, als auch den Konservativen. Und was tut
       die AKP? Sie erschwert die Scheidung. Das ist eine Maßnahme zur Festigung
       der Familie. Mit der erschwerten Scheidung wurde auch über ein Verbot von
       Kaiserschnitt und Abtreibung diskutiert, die Drei-Kinder-Kampagne
       gestartet, es wurde über das Thema Unterhaltszahlungen gestritten.
       
       Abgesehen von diesem Konservatismus begegnen wir ständig Erklärungen
       islamischer Geistlicher zum weiblichen Körper. Zum Beispiel: „Wenn eine
       Frau ihrem Ehemann gegen seinen Willen den Rücken zukehrt (d.h. wenn sie
       den Geschlechtsverkehr verweigert), werden die Engel sie verfluchen“.
       Welchen Einfluss hat diese verstärkte Religiosität auf die
       gesellschaftliche Ungleichheit der Geschlechter?
       
       Die sozialen Dienstleistungen gehen über das Amt für
       Religionsangelegenheiten Diyanet in die Kontrolle der Regierung über. Der
       Umstand, dass Diyanet auch in diesem Bereich seine Hände im Spiel hat,
       drängt Frauen zurück in die Familie. Während es in der Türkei 2008 noch
       mehr als 400 öffentliche Kindergärten gab, ist diese Zahl 2016 auf etwas
       mehr als 50 gesunken. Dagegen existieren heute über 1.000 unter der
       Aufsicht der Religionsbehörde Diyanet stehende
       Kinderbetreuungseinrichtungen. Auch das sind Maßnahmen, die der Festigung
       von Familie dienen.
       
       Im Gleichstellungsprojekt an Hochschulen soll laut dem Präsidenten des
       türkischen Hochschulverbands bald der Begriff „gesellschaftliche Gleichheit
       der Geschlechter“ gestrichen werden. Stattdessen soll es dort „auf
       Gerechtigkeit beruhende Frauenstudien“ heißen. Hier findet eine
       Diskursverschiebung statt: Anstelle von Gleichheit der Geschlechter ist
       vermehrt die Rede von Gerechtigkeit. Kann es Gerechtigkeit geben ohne
       Gleichheit?
       
       Nein, natürlich nicht. Diese Änderung insinuiert, dass Frauen und Männer
       absolut nicht gleich sind, dass sie ihrer Natur gemäß unterschiedlich sind:
       Der Mann ist rational, die Frau emotional. Deshalb bedeutet Gerechtigkeit
       je nach Geschlecht etwas anderes. Außerdem wird hier beim Thema
       Gerechtigkeit von der Einteilung der Geschlechter in männlich und weiblich
       gesprochen. Das dritte Geschlecht steht hier überhaupt nicht auf der
       Tagesordnung, auch sexuelle Orientierung nicht. Weiblich und männlich sind
       jedoch eigentlich nur zugeschriebene Geschlechter.
       
       Es gibt aber auch Frauen, die öffentlich „Nicht Gleichheit sondern
       Gerechtigkeit“ fordern. Warum ist das so?
       
       Wenn man den Käfig von Nahem sieht, merkt man überhaupt nichts. Erst wenn
       man sich ein wenig entfernt, sieht man, dass man sich in einem Käfig
       befindet. Frauen sind zu sehr eingeschlossen von diesem Käfig. Jede möchte
       dort, wo sie lebt, akzeptiert werden. Es ist kein leichter Prozess,
       Feministin zu werden. Man muss alles hinterfragen, und sich vor allem mit
       sich selbst auseinandersetzen. Und es ist ein revolutionärer Prozess, weil
       man es jeden Tag tun muss.
       
       Der Begriff „Männlichkeit“ wird derzeit weltweit diskutiert. In der Türkei
       antwortet man selbst auf Gewalt gegen Frauen mit Sprüchen wie: „Ein echter
       Mann schlägt seine Frau nicht“. Man stellt also wieder die Männlichkeit
       lobend in den Vordergrund. Warum steht Männlichkeit in der Türkei so sehr
       unter Schutz?
       
       Es gelingt uns in der Türkei nicht, die Männlichkeit zu durchbrechen, weil
       die sogenannte Ehre hierzulande so wichtig ist. Unter „Ehre“ verstehen wir
       die Tatsache, dass der Mann die Frau besitzt. Das bedeutet, dass es im
       Grunde genommen überhaupt nicht zur Debatte steht, dass eine Frau selbst
       verantwortlich ist für ihre Sexualität und ihren Körper. Außerdem sind
       Ausdrücke wie „das gehört sich nicht“ und „das ist Sünde“ im Alltag immer
       noch extrem stark verbreitet, was wir immer wieder zum Thema gemacht haben.
       Seit frühester Kindheit darf man über bestimmte Dinge nicht sprechen. Es
       muss aber offen über diese Dinge geredet werden. Nur durch eine Erziehung,
       die hier ansetzt, kann eine Person die eigene Männlichkeit überwinden. Es
       ist wichtig, dass verschiedene Formen von Männlichkeit in Umlauf gebracht
       werden.
       
       Wie steht es um die Herrschaft des Patriarchats in den linken und
       sozialdemokratischen Bewegungen der Türkei? 
       
       Das Patriarchat hat in der Türkei überall extrem viel Macht. In den
       siebziger Jahren vereinsamten Frauen als Einzelkämpferinnen in den linken
       Organisationen, sie wurden als „Schwester“ oder „Genossin“ bezeichnet, sie
       blieben stets im Hintergrund, sie erhielten keinerlei Recht, für sich
       selbst zu sprechen, sie mussten sich immer über die Organisation
       definieren. Deshalb begannen sie sich in den siebziger Jahren feministisch
       zu organisieren. Diese Bewegung lässt sich nicht mehr rückgängig machen.
       Nicht umsonst gehen am 8. März tausende Frauen auf die Straße. Denn durch
       den Kampf der Frauen wurden schon viele wichtige Ziele erreicht. Frauen
       wissen jetzt, dass sie nicht allein sind.
       
       Ja, das stimmt, es gibt Protestmärsche mit vielen Teilnehmerinnen. Frauen
       sprechen offener über Gewalt, die sie sowohl im privaten als auch
       öffentlichen Bereich erfahren. Aber auf der anderen Seite lösten sich
       Organisationen wie das sozialistisch-feministische Kollektiv auf und der
       feministische Verlag Ayizi wurde geschlossen. Erlebt der Feminismus in der
       Türkei einen Wandel oder steckt er in der Krise?
       
       Ich glaube nicht, dass der türkische Feminismus in der Krise ist. In den
       1980er Jahren wurden die Gruppe Kadın Çevresi (Dt.:„Frauenumfeld“) und
       andere Gruppen zur Bewusstseinsstärkung gegründet, doch diese Gruppen
       hielten sich nicht lange und wurden in etwas anderes umgewandelt. Es ist
       nicht leicht, immer etwas sagen zu müssen. Und es kann für die
       Mobilisierung sehr zermürbend sein. Ich bin sehr traurig, dass der
       Ayizi-Verlag geschlossen wurde – wir sind so feministisch, und trotzdem ist
       es uns nicht gelungen, einen feministischen Verlag am Leben zu erhalten.
       Aber das geht jetzt zu Ende, etwas anderes beginnt. Es gibt ja auch noch
       unglaublich tolle Webseiten wie Çatlak Zemin, 5Harfliler und Reçel, wo
       Frauen ihre Stimme erheben. Das zeigt auch, dass es heute andere Formen der
       Mobilisierung braucht.
       
       Aus dem Türkischen von Judith Braselmann-Aslantaş
       
       7 Mar 2019
       
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