# taz.de -- Mutmaßlicher Frauenmord in der Türkei: Gerechtigkeit für Şule Çet
       
       > Die Studentin Şule Çet stürzte im Mai 2018 in Ankara aus dem 20. Stock.
       > Ihr Chef steht im Verdacht, sie vergewaltigt und getötet zu haben. Heute
       > begann der Prozess.
       
 (IMG) Bild: Vor dem Gericht in Ankara fordern Frauenorganisationen Gerechtigkeit für Şule Çet
       
       Zum Prozessauftakt um den mutmaßlichen Mord an der Studentin Şule Çet in
       Ankara sind an diesem Mittwochmorgen so viele Menschen angereist, dass drei
       Mal der Gerichtssaal gewechselt werden musste. Rund 500 drängen in den
       Saal, die Verhandlung kann erst mit einer Stunde Verspätung beginnen. Schon
       in den frühen Morgenstunden versammelten sich feministische Organisationen
       vor dem Gericht in Ankara und forderten auf Plakaten „Gerechtigkeit für
       Şule Çet“. Landesweit wird über den Tod der Studentin, der die Türkei im
       vergangenen Jahr erschüttert hat, berichtet und gesprochen.
       
       Die 23-Jährige war am 29. Mai 2018 nach einem Sturz aus dem 20. Stockwerk
       eines Bürogebäudes in Ankara unter zweifelhaften Umständen ums Leben
       gekommen. Çet hatte kurz zuvor ihren Nebenjob in einer Bar verloren. Am
       Abend des 28. Mai traf sie sich mit ihrem ehemaligen Chef, Çağatay A. Der
       Barbetreiber hatte Çet mit dem Vorwand in ein Lokal bestellt, sie wieder
       einzustellen und ihr das Gehalt zu zahlen, das er ihr noch schuldete. Von
       dem Lokal gingen sie um 23.45 Uhr in das Bürogebäude. In einer Nachricht
       schrieb Çet ihrer Mitbewohnerin noch, sie wolle nicht dort hingehen. Die
       Aufzeichnung der Überwachungskamera in der Empfangshalle des Büroturms
       zeigt, dass mit Çet und Çağatay A. auch dessen Freund Berk A. das Gebäude
       betrat. Gegen 4 Uhr stürzte die junge Frau aus dem 20. Stock.
       
       Çağatay A. und Berk A. wurden festgenommen. Bei der Polizeibefragung sagte
       Çağatay A. aus, Çet habe sich umgebracht. Sie sei in das Nebenzimmer des
       Büros gegangen, wo er sie mit halbem Körper aus dem Fenster gelehnt
       vorgefunden habe. Er habe noch versucht, sie festzuhalten, doch sie ihm aus
       den Händen geglitten und gestürzt. Berk A. wiederum sagte aus, er sei in
       einem anderen Raum gewesen und hätte nichts mitbekommen. Beide kamen unter
       Auflagen frei. Dann stellte sich heraus, dass Çet in der fraglichen Nacht
       zunächst ihre Mitbewohnerin angerufen und gesagt hatte: „Ruf mich an, sag,
       dass ich sofort kommen soll“, und später noch schrieb: „Ich kann nicht weg,
       der Mann ist beharrlich, er lässt mich nicht gehen.“
       
       ## Keine Fingerabdrücke am Fenster
       
       Die Familie ging von Anfang an davon aus, dass Şule Çet umgebracht wurde.
       Auch dem Anwalt der Familie, Umur Yıldırım, zufolge gibt es in dem Fall
       Hinweise, die einen Mord statt Suizid nahelegen. Am 4. Juli fand die
       Gerichtsmedizin an Çets Körper Gewebereste und DNA-Spuren von Çağatay A. An
       der Fensterband und dem Fenster, aus dem Çet gestürzt war, fanden sich
       keine Fingerabdrücke von ihr. Das heißt, sie müsste mit Anlauf über den
       Fenstersims gesprungen sein.
       
       Erst auf massiven Druck der Öffentlichkeit und der Familie, die
       Gerechtigkeit für Şule Çet forderten, wurde gegen Çağatay A. und Berk A. am
       14. Juli Haftbefehl erlassen. Die Staatsanwaltschaft warf ihnen
       Freiheitsberaubung unter Gewaltanwendung, Drohung oder Betrug und sexuellen
       Übergriff vor. Vier Monate ging es in den Ermittlungen nicht voran.
       
       Dann wurden die Ermittlungen einer anderen Staatsanwaltschaft übertragen,
       die für die beiden Angeklagten wegen Mordes, sexuellen Übergriffs und
       Freiheitsberaubung lebenslänglich und bis zu 39 Jahre Haft forderte. Der
       gerichtsmedizinische Bericht belegt, dass sich unter Çets Fingernägeln
       DNA-Spuren von Berk A. fanden. In der Anklageschrift ist festgehalten, dass
       Çet vergewaltigt, geschlagen und aus dem Fenster geworfen wurde. Nach
       weiteren drei Monaten stehen die Angeklagten nun in Ankara vor Gericht.
       
       ## Betont gelassen auf der Anklagebank
       
       Im Verhandlungssaal ist die Stimmung aufgeheizt. Über zweihundert
       Anwält*innen, darunter allein 157 vom Frauenrechtszentrum der Anwaltskammer
       Ankara, stellen Anträge auf Prozessbeobachtung. Im Saal sind zudem fast
       dreißig Anwält*innen der Nebenklage anwesend. Das Ministerium für Familie
       und Sozialpolitik, Frauenverbände und Parlamentarier*innen haben
       Nebenklagen beantragt.
       
       Die beiden Angeklagten sind von einer Mauer aus Polizisten umstellt, so
       dass man die Gesichter der Angeklagten nicht sehen kann. Çağatay A. gibt
       sich auf der Anklagebank betont gelassen. „Von Mord kann keine Rede sein“,
       beginnt er seine Verteidigung. „Wir haben Şule nicht angerührt.“ Auch die
       Frage des Vorsitzenden Richters, ob er Şule Çet vergewaltigt habe, verneint
       er. Die Fragen der Anwält*innen und Einzelheiten vom Tatort bringen den
       Angeklagten aber in Bedrängnis. Er verwickelt sich in Widersprüche zu
       seiner Erstaussage.
       
       Während der Befragungen wird wiederholt der Lebensstil der Studentin in
       Frage gestellt. In der Anklageschrift, die der Vorsitzende Richter
       vorliest, wird hervorgehoben, Şule Çet und der Angeklagte Çağatay A. hätten
       sich in einer „Gaststätte mit Alkoholausschank“ getroffen und an mehreren
       Orten „Alkohol getrunken“. Die Mitbewohnerin, die als Zeugin geladen wurde,
       wird gefragt, ob Şule Çet Männerbesuch bekommen habe.
       
       Die Aussagen der beiden Angeklagten widersprechen sich in drei Punkten.
       Çağatay A. sagt aus, sein Freund Berk A. habe Şule Çet in das Bürogebäude
       eingeladen, Berk A. behauptet das Gegenteil. Widersprüchlich sind zudem
       ihre Aussagen zur Vernichtung von Beweismitteln. Çağatay A. zufolge spülten
       sie die Gläser, die sie im Büro benutzt hatten, bevor Çet aus dem Fenster
       stürzte, laut Berk A. danach. Drittens sagt Berk A. aus, er sei zum
       Tatzeitpunkt betrunken gewesen und eingeschlafen. Çağatay A. behauptet
       wiederum, Berk A. sei wach gewesen.
       
       ## Lackmustest für die Politik der Straflosigkeit
       
       Der Vater, der ältere Bruder und nahe Angehörige von Şule Çet verfolgen
       still die Aussagen der Angeklagten. Doch als die Verteidiger die
       Freilassung der Angeklagten fordern, reagiert İsmail Çet, der Vater von
       Şule: „Damit sie die Töchter anderer Väter töten können?“, fragt er.
       
       Laut Angaben der Plattform „Wir werden die Frauenmorde stoppen“ wurden in
       der Türkei 2018 insgesamt 440 Frauen von Männern ermordet, 317 Frauen
       wurden Opfer von sexueller Gewalt. Diese Zahl spiegelt jedoch nur die Fälle
       wider, über die in den Medien berichtet wurde. Die Dunkelziffer dürfte weit
       höher sein. Vertreterinnen von Frauenverbänden, die den Prozess beobachten,
       sehen in diesem Verfahren einen Musterprozess für ähnliche Fälle.
       
       Sultan Gürbey von den Frauenräten erzählt taz.gazete während der
       Verhandlung, die junge Aysun Yıldırım sei im Februar 2018 auf ähnliche
       Weise aus dem Fenster geworfen und ermordet worden. Die Staatsanwaltschaft
       ging von einem Suizid aus und schloss die Akte. Als der Fall Şule Çet große
       öffentliche Aufmerksamkeit erhielt, habe Aysun Yıldırıms Familie sich an
       einen Frauenverband gewendet und sei mit dessen Unterstützung vor das
       Verfassungsgericht gegangen.
       
       Der Vorsitzende Richter schließt die Verhandlung am späten Nachmittag und
       setzt den nächsten Verhandlungstermin auf den 15. Mai an. Es sieht danach
       aus, dass, der Fall Şule Çet, bei dem erstmals die Angeklagten vor Gericht
       stehen, zu einem Lackmustest für die Politik der Straflosigkeit bei
       ähnlichen Frauenmorden in der Türkei wird.
       
       Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
       
       6 Feb 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Irfan Aktan
 (DIR) Erk Acarer
       
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