# taz.de -- nord🐾thema: „Nicht nur schulter-klopfender Rückblick“
       
       > Die Waldorfschulen feiern dieses Jahr ihr hundertstes Jubiläum mit dem
       > weltweiten Projekt Waldorf 100. Leiter Henning Kullak-Ublick erklärt die
       > Idee dahinter
       
       Interview Frieda Ahrens
       
       taz: Wie entstand die Idee zu dem Projekt Waldorf 100? 
       
       Henning Kullak-Ublick: Da muss ich etwas ausholen. Zweimal im Jahr gibt es
       die „Internationale Konferenz der waldorfpädagogischen Bewegung“. 2014
       haben wir uns in Israel getroffen. Dort saßen wir mit einigen Schüler*innen
       der zwölften Klasse zusammen, die uns von ihrem bevorstehenden zweijährigen
       Militärdienst erzählten. Ein Mädchen sagte: „Ich bin im Krieg geboren und
       werde wahrscheinlich auch im Krieg sterben. Das Wichtigste, was ich an der
       Waldorfschule gelernt habe, ist, dass ich, egal was in meinem Leben
       passieren wird, immer zuerst den Menschen sehen werde und dann erst den
       Christen, Drusen, Juden, Muslim oder Araber.“ Diese Aussage fuhr so sehr in
       mich rein, dass sofort klar war, dass wir unser hundertstes Jubiläum nicht
       als schulterklopfenden Rückblick feiern, sondern dass wir alle Energie
       zusammennehmen wollen, um das weltweite Miteinander der Menschen in den
       Mittelpunkt zu stellen – das ganze Jubiläumsjahr hindurch.
       
       Und wie funktioniert das? 
       
       Eigentlich ist die Ur-Idee von Waldorf 100: Begegnung, Begegnung,
       Begegnung. Wie kriegen wir hin, dass die Schüler*innen eine Wahrnehmung
       bekommen von der Welt in ihrer Vielfalt und auch Schönheit? Wir sind, wenn
       man über die globale Welt spricht, fast ausschließlich auf die Probleme und
       Katastrophen fixiert. Was einzelne Menschen für wunderbare Sachen machen,
       gerät dabei zu oft aus dem Blick. Das ist für Schüler*innen aber wichtig,
       weil sie erst einmal eine Beziehung zur Welt aufbauen müssen, um
       Verantwortung für sie übernehmen zu können. Dadurch sind weltweit ganz
       viele Projekte entstanden, die über den Tellerrand rausgucken wollen.
       
       Was für Projekte? 
       
       Dafür nur ein Beispiel: Zum Auftakt haben wir 1,2 Millionen Postkarten mit
       den Adressen aller 1.200 Waldorfschulen auf der Welt drucken lassen und
       einen Satz an jede Schule verschickt. Die Schüler*innen haben diese
       Postkarten gestaltet und so hat jede Waldorfschule auf der Welt jeder
       Waldorfschule auf der Welt eine Postkarte geschickt. Für die Kinder ist es
       schön zu sehen: Überall da gibt es Waldorfschulen. Damit wird direkt
       Interesse für die anderen Länder geweckt.
       
       Was machen Sie in Deutschland? 
       
       Es gibt ganz viele Projekte, künstlerisch, praktisch oder sportlich.
       Zurzeit wandern drei Staffelstäbe durch Deutschland. Bei dem Projekt gibt
       nur eine Bedingung: Die Kinder dürfen die nicht motorisiert von einem Ort
       zum nächsten bringen. Was die sich da ausdenken, ist sagenhaft: Die einen
       surfen, die nächsten schwimmen, dann fahren welche mit dem Einrad oder
       einem Drachenboot über die Ostsee und wieder jemand anderes macht eine
       Nachtwanderung.
       
       Was passiert im Norden? 
       
       Im Kiel auf der Krusenkoppel wird im September ein großes Fest gefeiert. In
       Hamburg finden in der Laeiszhalle am 13. September ganztägig immer wieder
       Veranstaltungen statt. Mit Schülern*innen aus den Hamburger Schulen – auch
       schulübergreifende Projekte werden vorgestellt. Am 6. März wird in Hamburg
       eine Preisverleihung stattfinden für eines der Großprojekte, den
       Dramawettbewerb. Da wird die Jury aus bekannten Schauspieler*innen, die
       selbst an der Waldorfschule waren, den Preis in den Kammerspielen
       verleihen: Autor*innen waren aufgerufen, der Frage nach dem Wesen des
       Menschen im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz nachzuspüren.
       
       Was für einen Wandel hat die Waldorfschule in den letzten 100 Jahren
       durchgemacht? 
       
       Die Waldorfpädagogik basiert auf der Wahrnehmung der Kinder, individuell,
       in ihrem sozialen Kontext und altersbezogen. Deshalb befindet sich eine
       Waldorfschule, die sich selbst richtig versteht, immer im Wandel. Es gibt
       gar kein starres System, aber es gibt grundlegende Gesichtspunkte, die sich
       in einem sehr freilassenden und zur Eigeninitiative einladenden Lehrplan
       niederschlagen. Anhand realer Kinder und einem realen Kontext sollten die
       Lehrenden gucken, was die Kinder individuell und als Gruppe brauchen.
       Wandel ist also ein impliziter Bestandteil unserer Pädagogik. Sobald man
       Copy and Paste macht, ist das keine Waldorfpädagogik mehr. Natürlich haben
       wir auch Traditionen entwickelt, aber die sind immer nur so gut wie das
       Leben, das in ihnen steckt.
       
       Wie hat die Geschichte dazu beigetragen? 
       
       In Deutschland war die große erste Aufbauphase in den 20er- und frühen
       30er-Jahren. Die wurde in den 30er-Jahren dann ja abrupt beendet, weil
       entweder die Nazis oder die Schulen sich selber geschlossen haben, weil sie
       diese Kompromisse nicht mehr mitmachen wollten. Die Anfangsjahre waren
       unglaublich stark geprägt von den Persönlichkeiten, die noch direkt mit
       Rudolf Steiner zusammengearbeitet haben. Nach dem Krieg wurde die Pädagogik
       immer mehr durch Bücher und Seminare weitergegeben. Während der folgenden
       Konsolidierungsphase entstanden immer neue Waldorfschulen, weil die Eltern
       eine andere Pädagogik suchten. Heute sind sie nicht mehr wegzudenken.
       
       Und heute? 
       
       In den letzten Jahren hat die riesige Frage der Digitalisierung das alles
       noch mal total aufgemischt. Es gibt einen großen Diskurs an den
       Waldorfschulen, wie wir unsere Pädagogik noch mal neu entdecken und
       erschließen können, um die Kinder auf das Leben in einer Welt
       vorzubereiten, die weitgehend von Künstlicher Intelligenz organisiert sein
       wird. Wie schaffen wir es, dass sie nicht nur gut funktionierende Anwender
       werden, sondern die Technik durchschauen und für eine menschenwürdige
       Entwicklung ihrer selbst und der Welt nutzen können?
       
       Dort liegt heute der Fokus? 
       
       Das ist der eine. Der zweite ist philosophisch: Wie kann die Angst, die
       heute unheimlich viele Entscheidungen unserer Gesellschaft steuert, durch
       die Erfahrung der eigenen Wirksamkeit überwunden werden? Auch wegen solcher
       Fragen wünsche ich mir, dass wir noch selbstverständlicher mit allen
       anderen Schulen zusammenarbeiten, die auch nach neuen Wegen suchen.
       
       Zum Beispiel? 
       
       Nehmen Sie den Schweinezaun der Dänen. Das ist für mich geradezu eine
       Karikatur, wo wir heute angelangt sind. Momentan gibt es diese
       Einmauerungsideologie weltweit. Das ist eine große Aufgabe für die
       Pädagogik: Jungen Menschen Wege zeigen, wie man Brücken zu anderen Menschen
       baut. Das Verhältnis von Individualität zur Gemeinschaft, das muss eine
       grundlegende Basisschule werden.
       
       9 Feb 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Frieda Ahrens
       
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