# taz.de -- HIV in der Türkei: Wir sind positiv
       
       > Menschen mit HIV bekommen in der Türkei neueste Medikamente. Von der
       > Gesellschaft werden sie aber nach wie vor stigmatisiert.
       
 (IMG) Bild: Oğuzhan Latif Nuh, 24 Jahre alt, Student, HIV-Diagnose 2016
       
       Während weltweit die Zahl der HIV-Infektionen in den meisten Ländern
       zurückgeht, ist die Türkei eines der Länder, in der sich immer mehr
       Menschen infizieren. Laut Deniz Gökengin, Spezialistin für Infektiologie an
       der Ege Universität in Izmir, hat sich die Infektionsrate in den
       vergangenen zehn Jahren verzehnfacht. Von 1985 bis 2018 hat das türkische
       Gesundheitsministerium 20.293 Menschen mit HIV registriert. Zwar ist die
       Zahl der HIV-Infektionen in der Türkei im Vergleich mit anderen Ländern
       nach wie vor eher niedrig. Gökengin geht aber davon aus, dass die
       Dunkelziffer doppelt so hoch ist. “Bis 2010 stieg die Infektionsrate
       langsam, doch seitdem ist ein schneller Anstieg zu verzeichnen“, sagt sie.
       
       Çiğdem Şimşek, Vorstandsmitglied des Vereins Pozitif-iz (“Wir sind
       positiv“), sagt: “Wir sehen nur die Spitze des Eisbergs“. Ihr Verein hat es
       sich zum Ziel gesetzt, Menschen mit HIV-Diagnose zu unterstützen und das
       Bewusstsein in der Gesellschaft für die Infektion zu erhöhen. Den Anstieg
       der Infektionsrate in der Türkei führt sie auf leichteren Zugang zu Sex in
       Verbindung mit unzulänglicher Präventionsarbeit und Bildung in sexueller
       Gesundheit zurück. Der Hauptübertragungsgrund der Infektion ist immer noch
       ungeschützter Sex.
       
       Zivilgesellschaftliche Organisationen und Betroffenen finden, dass der
       Zugang zu Medikamenten und zur Behandlung von HIV in der Türkei gut
       geregelt ist. HIV-positive Personen werden aber immer noch stigmatisiert
       und diskriminiert. “Die Ursache dafür ist Unwissen und mangelndes
       Bewusstsein“, erklärt Deniz Gökengin. “Nicht nur die Gesellschaft, auch das
       Pflegepersonal denkt immer noch, dass HIV eine tödliche Krankheit sei und
       in alltäglichen zwischenmenschlichen Beziehungen übertragen wird. Alle
       haben Angst, dass sie sich anstecken.“
       
       ## Anders behandelt und ausgegrenzt
       
       Çiğdem Şimşek vom Verein Pozitif-iz berichtet von Fällen, in denen der
       Gesundheitszustand von HIV-positiven Menschen in Krankenhäusern oder von
       Arztpraxen preisgegeben wurde, die Betroffenen deshalb anders behandelt
       wurden als andere Patient*innen oder ihnen die Behandlung verweigert wurde.
       “Es kommt vor, dass HIV-Positive wegen ihrer Krankheit nicht eingestellt
       oder gekündigt werden. Wenn Menschen mit HIV ihren Familien, Partner*innen
       und Freund*innen von ihrer Diagnose erzählen, kann es sein, dass diese sich
       von ihnen distanzieren“, sagt Şimşek.
       
       Sie betont, dass sich all diese negativen Erfahrungen auf die Behandlung
       auswirken können. Weil Menschen mit HIV Angst vor diesen negativen
       Erfahrungen haben, könne es vorkommen, dass sie es vorziehen, sich nicht
       behandeln zu lassen oder dass sie ihre Medikamente nur unregelmäßig
       einnehmen. Wegen dieser Ängste machten dazu viele Menschen keinen HIV-Test.
       
       “Das Schwierigste ist es, die Vorurteile abzubauen“, ist Gökengin
       überzeugt. “Wir müssen die Gesellschaft über verschiedene Kanäle darüber
       aufklären, dass es keinen Unterschied zwischen HIV und anderen Infektionen
       gibt“ Sie hält es für sinnvoll, wenn die Bildung in sexueller Gesundheit
       schon im Kindesalter beginnt.
       
       Auch wenn viele wegen der Stigmatisierung ihre Identität nicht öffentlich
       machen wollen, werden die Stimmen von Menschen in der Türkei, die mit HIV
       leben, lauter. taz gazete hat mit drei von ihnen gesprochen. 
       
       Oğuzhan Latif Nuh, 24 Jahre alt, Student, HIV-Diagnose 2016 
       
       Als ich meine Diagnose bekommen habe, hatte ich gerade mein Studium
       abgebrochen. Ich habe in einer Bar gearbeitet und mich auf die
       Eingangsprüfungen für ein neues Studium vorbereitet. Die HIV-Diagnose hat
       mein Leben komplett auf den Kopf gestellt. Zuerst dachte ich, dass mein
       Leben eine schlechte Wende genommen hat und alles, was ich im Leben
       erreichen wollte, nun unmöglich geworden ist. Ich wurde depressiv und habe
       meine Wohnung monatelang nicht verlassen.
       
       Dann habe ich angefangen, mich über HIV zu informieren und habe verstanden,
       dass meine Ängste daher rührten, dass ich nicht genug über HIV wusste. Ich
       habe festgestellt, dass heutzutage Menschen, die mit HIV leben, ihr Leben
       normal weiterführen können, wenn sie in Behandlung sind. Das habe ich zuvor
       nicht gewusst. Ich habe mich monatelang zuhause verkrochen, weil ich
       dachte, ich werde sterben.
       
       Nach der Diagnose rief ich sofort meinen Freund an, erzählte ihm alles und
       forderte ihn auf, auch einen Test zu machen. Als sein Test negativ war,
       wollte ich mich von ihm trennen. Doch er blieb bei mir und unterstützte
       mich. Neben meinem Freund erzählte ich engen Freund*innen, dass ich HIV
       positiv bin. Ohne die Unterstützung meiner Freund*innen und meines Partners
       wäre ich aus der Depression nicht herausgekommen. Eine HIV-Diagnose zu
       bekommen, kann dich unglaublich einsam und hilflos fühlen lassen; vor allem
       wenn du zu einer Gruppe gehörst, die in der Gesellschaft ohnehin schon
       nicht akzeptiert wird.
       
       Die HIV-Diagnose hat meine Freundschaften stärker gemacht. Gleichzeitig hat
       sie dazu geführt, dass ich mich von meiner Familie entfernt habe, weil sie
       nicht besonders verständnisvoll darauf reagiert hat, dass ich schwul bin.
       Ich habe beschlossen, meiner Familie erst von der Diagnose zu erzählen,
       wenn unsere Beziehung sich verbessert hat und ich sie über HIV informiert
       habe.
       
       Die Diagnose hat mich in ein Abenteuer gestoßen, für das ich überhaupt
       nicht bereit war. Anfangs war es wie eine Ohrfeige, aber als ich mehr über
       die Krankheit erfahren habe, bin ich wieder aufgestanden und habe meine
       Rechte verteidigt.
       
       Weltweit leben ungefähr 37 Millionen Menschen mit HIV. Diese Menschen sind
       nicht nur Homosexuelle, Sexarbeiter*innen und Drogenabhängige. Das ist eine
       Infektion, die durch einen Virus verursacht wird. Es ist völlig
       gleichgültig, ob sie Mütter, Väter, Kinder, Anwält*innen, Lehrer*innen oder
       Ärzt*innen sind.
       
       Ironischerweise werden HIV-Positive in der Türkei am meisten in
       Krankenhäusern stigmatisiert. Die Sekretärinnen, Krankenschwestern und
       Krankenpfleger sind nicht sensibel genug, wenn es um HIV geht. Es kommt
       vor, dass die Krankenschwester beim Blutabnehmen sagt, “Ich ziehe mir
       lieber Handschuhe an“, wenn sie erfährt, dass ich HIV-positiv bin. Das, was
       mich bisher am meisten schockiert hat, ist mir in Deutschland während
       meines Erasmus-Austauschs passiert. Obwohl ich die Unterlagen der
       Krankenversicherungsvereinbarung zwischen der Türkei und Deutschland
       vorgezeigt habe, wollte die AOK die Kosten für meine Medizin und Bluttests
       nicht übernehmen. Stattdessen hat sie gefragt, ob ich sterben würde, wenn
       ich meine Medikamente nicht nehme.
       
       Sevgi Yılmaz, 40 Jahre alt, Lehrerin und Mutter einer Tochter, HIV-Diagnose
       2005 
       
       Ich habe Glück gehabt. Meine Familie hat mich von Anfang an sehr
       unterstützt. Wenn man mit HIV lebt, ist die Unterstützung der Familie
       wirklich wichtig. Ich hatte nur Schwierigkeiten, es meinem Kind zu
       erklären. Bei mir wurde AIDS im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert.
       Weil ich lange Zeit im Krankenhaus war, hatte sie Angst, mich zu verlieren.
       Ich konnte ihr erst vier Jahre nach meiner Diagnose erzählen, was los ist.
       Davor habe ich mich von einer Kinderpsychologin beraten lassen.
       
       Anfangs wollte ich ihr nicht alles erzählen, weil es sie verwirrt hätte.
       Deshalb habe ich ihr nur vermittelt, dass sie keine Angst zu haben braucht
       und dass mir nichts passiert. Und ich habe ihr gesagt, dass sie mich immer
       fragen kann, wenn sie etwas beschäftigt. Nach und nach hat sie mich dann
       auch gefragt. Es fiel mir auch schwer, meiner Tochter von der Diagnose zu
       erzählen, weil ich mich bei meinem Ex-Mann angesteckt habe. Er ist ihr
       Vater. Als sie mich gefragt hat, woher ich den Virus habe, habe ich ehrlich
       geantwortet. “Ich habe mich bei deinem Vater angesteckt. Er hat es nicht
       gewusst und gewollt.“
       
       Ich habe auch meinen engsten Freund*innen davon erzählt. Wenn man von HIV
       und dem Leben mit HIV erzählt, ist es meiner Meinung nach besonders
       wichtig, es mit wissenschaftlichen Fakten zu untermauern. Dadurch bleiben
       bei ihnen keine Fragen offen.
       
       Inzwischen bin ich mit einem HIV-negativen Mann verheiratet, der im
       Gesundheitssektor arbeitet. In meiner jetzigen Beziehung war HIV nie ein
       Problem. Meine HIV-Infektion stand nie zwischen uns, sie beeinträchtigt
       nicht einmal unseren Alltag. Das hat auch damit zu tun, wie ich mich selbst
       wahrnehme. Mich trifft keine Schuld, das ist nur eine Infektion.
       
       Ich bin dankbar, weil ich durch die HIV-Diagnose viel gelernt habe. Ich bin
       dadurch stärker geworden und habe tolle Menschen kennengelernt. Ich kann
       sagen, dass ich die einzige HIV-positive Frau in der Türkei bin, die die
       Interessen von Betroffenen vertritt. Es tut mir gut, ein Vorbild für
       Menschen zu sein, die gerade ihre Diagnose bekommen haben, und sie dabei zu
       unterstützen, ihr Leben mit HIV zu normalisieren. Und zugleich als
       heterosexuelle Mutter ein Beweis dafür zu sein, dass HIV keine Krankheit
       ist, die nur Homosexuelle betrifft.
       
       Was den Zugang zu Medikamenten und Behandlung angeht, haben wir hier in der
       Türkei Glück. Die neuesten Medikamente sind vorrätig und es gibt auch keine
       Probleme, sie zu bekommen. Die Probleme erleben wir eher im
       Gesundheitswesen und im sozialen Umfeld. Hier ist es wichtig, dass wir
       unsere Rechte kennen und sie einfordern. Am meisten stigmatisiert werden
       wir im Gesundheitssektor und von Krankenpfleger*innen, weil sie nicht genug
       über HIV wissen. In der Universität steht es nicht im Curriculum, deshalb
       schließen sie das Medizinstudium auf diesem Gebiet mit Halbwissen ab. Mit
       unserem Verein Pozitif-iz gehen wir an die Medizin- und
       Krankenpflege-Fakultäten und klären über HIV auf.
       
       Oğuz, 35 Jahre alt, HIV-Diagnose 2011 
       
       Ich habe meine Diagnose vor acht Jahren bekommen. Zu der Zeit habe ich im
       Gesundheitssektor gearbeitet. Deshalb bin ich auch nicht in eine tiefe
       Depression gefallen oder hatte Selbstzweifel, als ich die Diagnose bekommen
       habe. Nach meiner Diagnose hat sich mein Leben gar nicht so sehr verändert.
       Ich wusste, wie die Gesellschaft HIV wahrnimmt, aber ich glaube, ich bin
       einer der Glücklichen, die von ihrem Freundeskreis die nötige Unterstützung
       bekommen.
       
       Als ich mich wenig später an meinen neuen Gesundheitszustand gewöhnt hatte,
       habe ich eines Abends meine engsten Freund*innen eingeladen, weil ich ihnen
       von der Diagnose erzählen wollte. Außer meinen engen Freund*innen weiß
       niemand, dass ich HIV-positiv bin, nicht einmal meine Familie. Weil meine
       Eltern alt sind, wollte ich nicht, dass sie sich unnötig Sorgen machen.
       
       Etwa ein Jahr nach meiner Diagnose habe ich mit der medikamentösen
       Behandlung angefangen. Bis heute habe ich in dem Krankenhaus, in dem ich
       mich behandeln lasse, nichts Negatives erlebt. Ich wurde behandelt wie
       andere Patient*innen, meine Tests wurden durchgeführt wie sie durchgeführt
       werden müssen. Ich habe keinerlei Diskriminierung erlebt.
       
       Nach meiner Diagnose hatte ich einige Beziehungen. Meine Partner kannten
       meinen Gesundheitszustand. Aber meine Beziehungen hielten wegen
       Meinungsverschiedenheiten nie lange.
       
       Nachdem ich wusste, dass ich HIV-positiv bin, hat sich mein Leben in
       vielerlei Hinsicht zum Positiven gewendet. Ich ernähre mich jetzt gesünder.
       Davor habe ich viel Fast Food gegessen. Ich habe angefangen, Sport zu
       treiben. Ich habe mir angewöhnt, ein paar Haltestellen früher aus dem Bus
       auszusteigen und den Rest zu laufen. Ich habe gelernt zu teilen. Ich habe
       viele HIV-positive Freund*innen und teile mit ihnen viele empowernde
       Momente. Und vor allem habe ich verstanden, dass dieses Leben die einzige
       Chance ist, die mir gegeben wird. Ob HIV-positiv oder -negativ, eine andere
       Chance habe ich nicht, ich muss das Leben in vollen Zügen leben.
       
       29 Jan 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Barış Altıntaş
 (DIR) Elisabeth Kimmerle
       
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