# taz.de -- Türkei schafft Gratisplastiktüte ab: Ein Land auf Plastikdiät
       
       > Bisher gab es beim Einkauf in der Türkei Plastiktüten im Überfluss. Seit
       > Jahresbeginn kosten sie Geld. Wie funktioniert die Umstellung? Eine
       > Reportage.
       
 (IMG) Bild: Heiß begehrt: die dünnen Gemüsetüten, die bisher noch gratis sind
       
       Anfang des Jahres kommt es an der Kasse einer Filiale des türkischen
       Discounters BIM in einer Seitenstraße hinter der berühmten Fatih-Moschee
       auf der historischen Halbinsel Istanbuls zu folgender Szene: Einer der
       Kund*innen, die in der Schlange vor der Kasse stehen, versucht unauffällig
       von der unbesetzten Kasse nebenan eine Plastiktüte zu nehmen. Der Kassierer
       bemerkt es und fordert den Mann auf, die Tüte zu bezahlen. „Für so ein Ding
       sollen wir 25 Kuruş bezahlen?! Die wollen uns wohl verarschen!“, schimpft
       der Ertappte wütend.
       
       Zum Jahresbeginn 2019 wurde in der Türkei die Gratisplastiktüte abgeschafft
       und eine Gebühr von 25 Kuruş, umgerechnet 4 Cent, für Einkaufstüten in
       Supermärkten eingeführt. Bisher wurden landesweit pro Jahr 35 Milliarden
       Plastiktüten verbraucht. Im Supermarkt, im Kiosk oder auf dem Wochenmarkt:
       Noch bis vor wenigen Wochen war die Gratistüte überall in der Türkei
       problemlos erhältlich.
       
       Umweltminister Murat Kurum erklärte, ab sofort sei das türkische Volk auf
       einer strengen Plastiktütendiät. Ziel dieser Regelung ist es, den
       Pro-Kopf-Verbrauch von 440 Plastiktüten pro Jahr zunächst auf 90, und bis
       2025 auf 40 pro Jahr zu senken. Die ersten Wochen in der Praxis verlaufen
       allerdings recht turbulent.
       
       In einer Zeit, in der sich die Türkei in einer wirtschaftlich schwierigen
       Phase befindet und die Inflation bei mehr als 20 Prozent liegt, stellen
       diese 25 Kuruş für das Budget vieler Bürger*innen eine beachtliche Summe
       dar. Eine Frau, die neben ihrem Einkaufskorb an der Kasse steht und wartet,
       rechnet vor: „Für einen Wocheneinkauf braucht man acht bis zehn Tüten, das
       macht zwei bis drei Lira. Mit dem Geld könnte ich mir ein weiteres Paket
       Nudeln kaufen. Für jemanden, der den Mindestlohn bekommt (Der Mindestlohn
       liegt in der Türkei aktuell bei 2.020 Lira, umgerechnet ca. 330 Euro,
       Anm.d.Red.), macht sich das bemerkbar.“
       
       ## Zielscheibe verärgerter Kund*innen
       
       Die dünnen Plastiktüten der Brot- und Gemüseabteilung, für die bislang
       keine Gebühren erhoben werden, sind zurzeit sehr gefragt. Der Angestellte,
       der draußen bei den Obst- und Gemüsekisten steht und aufpasst, erzählt:
       „Die Leute nehmen ganze Stapel dieser Tüten mit, die haben ganz schön an
       Wert gewonnen.“
       
       Vor allem Kassierer*innen werden in der Übergangsphase zur Zielscheibe
       verärgerter Kunden. Eine Kassiererin berichtet, wie ein Kunde seine
       Einkäufe hochhielt und sie fragte: „Soll ich sie mir etwa in den A***
       stecken?!“ Eine andere meint: „Hier ist es noch harmlos. Im Stadtteil
       Karagümrük sind sie sogar auf eine Kassiererin losgegangen.“
       
       Vor dem Supermarkt kann man aber auch beobachten, wie viele Menschen
       versuchen, ohne Plastiktüten zurechtzukommen. Ein Mann mittleren Alters
       kommt mit einer grünen Flasche Glasreiniger in der Hand heraus. Kurz darauf
       eine junge Frau, die versucht, vier Packungen des unter Student*innen
       beliebten Fertiggerichts Curry-Nudeln in ihrem Mantel zu verstauen. Eine
       Frau steckt ein paar Schokoriegel in die winzige Tasche ihrer gelben
       Strickjacke und hält die Hand darüber, damit sie nicht herausfallen. Viele
       Kund*innen packen ihre Einkäufe auch in aller Ruhe in ihre Taschen oder in
       mitgebrachte gebrauchte Plastiktüten, die sie sorgsam gefaltet aus der
       Jackentasche ziehen.
       
       ## Jutetaschen überall
       
       Die Supermarktbetreiber sind zufrieden mit der neuen Regelung, für sie
       fallen die Ausgaben für die Einkaufstüten weg. Tahir Sağın, Besitzer des
       Supermarktes Sağın-Hipermarket im Stadtviertel Fatih, erzählt: „Früher
       haben die Leute jedes kleine Teil in zwei bis drei Tüten verpackt. Jetzt
       transportieren sie ihre Einkäufe in den dünnen Plastiktüten für Brot.“
       
       Während Kassierer*innen und Supermarkteigentümer von einem Rückgang des
       Plastiktütenverbrauchs um 70 bis 80 Prozent sprechen, sagt Yavuz Eroğlu,
       der Vorsitzende des Verbands der türkischen Kunststoffindustrie, die
       Produktion sei um 50 Prozent zurückgegangen.
       
       In der großen Migros-Filiale in Beşiktaş, einem anderen Istanbuler
       Stadtteil, haben sich Jutetaschen verbreitet, die nicht nur nützlich sind,
       sondern außerdem auch noch schick aussehen. Die Stimmen derer, die die neue
       Regelung zwar befürworten, aber Einwände gegen die Umsetzung haben, sind in
       Beşiktaş deutlich lauter als in Fatih. Ein junger Mann erzählt, dass er aus
       Protest gegen die gebührenpflichtigen Einkaufstüten die kostenlosen
       Gemüse-Plastiktüten verwende. Es ärgere ihn, dass 15 dieser 25 Kuruş als
       Steuer an den Staat abgehen.
       
       Laut Gesetzesänderung decken 10 der für eine Plastiktüte eingenommenen 25
       Kuruş die Kosten für die Herstellung der Tüte und gehen an die Produzenten
       der Plastiktüten. 15 Kuruş fließen als Beitrag zur Unterstützung von
       Umweltprojekten auf das Konto des Umweltministeriums.
       
       ## Kritik an Umweltschutz der AKP
       
       Der Vorsitzende des türkischen Verbraucherschutzes, Bülent Deniz,
       befürwortet die Entscheidung für die gebührenpflichtige Plastiktüte der
       Umwelt zuliebe. Die negativen Reaktionen der Verbraucher werden sich seiner
       Einschätzung nach mit der Zeit legen. Allerdings findet er, der Preis für
       die Einkaufstüten hätte zu Beginn etwas niedriger ausfallen können. Die 15
       Kuruş, die pro Tüte an das Umweltministerium gehen, beurteilt auch Deniz
       kritisch: „Wird das Geld aus den dortigen Fonds angemessen verwendet? In
       einer Wirtschaft, in der man die Möglichkeiten des Obersten Rechnungshofes
       derart eingeschränkt hat, wird es immer Zweifel geben, ob das Geld aus
       diesem Fonds auch tatsächlich für Recyclingprojekte verwendet wird.“
       
       Während ihrer 16-jährigen Regierungszeit wurde die AKP-Regierung oft für
       ihre Umweltschutzregelungen kritisiert. Einer der Kund*innen in Beşiktaş,
       die sich über die neue Regelung empören, meint, es gebe weitaus größere
       „Umwelt-Verbrechen“ als die Plastiktüte. Er nimmt der Regierung nicht ab,
       dass sie durch die Einführung der Plastiktütengebühr etwas für den
       Umweltschutz tun wolle. Andere erinnern daran, dass Plastikflaschen in der
       Türkei nach wie vor nicht recycelt werden und fast alles in Plastik
       verpackt wird. „Warum ausgerechnet zuerst die Einkaufstüte?“, fragen sie.
       
       Einem Bericht des Berufsverbands der Umweltingenieure zufolge verbraucht
       die Türkei jedes Jahr mehr als 8,5 Millionen Tonnen Plastik, davon fast 2
       Millionen Tonnen Verpackungen. Nur 21 Prozent der Verpackungen werden zur
       Wiederverwertung eingesammelt. Laut Angaben des OECD von 2015 kann die
       Türkei gerade mal 1 Prozent ihres Mülls recyceln.
       
       ## „Wir werden uns daran gewöhnen“
       
       Neben der Einführung der Gebühr für die Einkaufstüte sieht das betreffende
       Gesetz ab 2021 auch die Pfandpflicht für bestimmte Verpackungen vor. So
       soll das Sammeln von Verpackungsmaterialien wie Getränkedosen und
       Glasflaschen in Zukunft erleichtert werden. Die Pfandeinnahmen sollen in
       Fonds eingezahlt werden und zur Unterstützung von Recyclingprojekten an die
       Regionalverwaltungen gehen. Die Vorsitzende des Berufsverbands der
       Umweltingenieure, Ilkim Yiğit, hält die Regelung für vernünftig, weist aber
       auf das Problem der Umsetzung hin: „Die Verteilung des Fonds an die
       Kommunalverwaltungen muss transparent, korrekt und fair erfolgen, ohne
       Berücksichtigung der politischen Prioritäten.“
       
       Eine Branche trifft die Gebührenpflicht für die Plastiktüte besonders hart:
       die der Hersteller. Etwa 2.000 kleinere und größere Firmen sind in der
       Türkei auf dem kunststoffverarbeitenden Sektor aktiv, rund 20.000 Menschen
       sind hier beschäftigt. Laut Yavuz Eroğlu, dem Vorsitzenden des Verbands der
       Kunststoffindustrie, hat sich der Produktionsrückgang in der Branche schon
       jetzt bemerkbar gemacht: Zehn Prozent der Arbeitsplätze seien gekündigt
       worden. Dieser Anteil werde mit der Zeit möglicherweise auf bis zu 50
       Prozent steigen.
       
       Trotz der negativen Auswirkungen unterstütze er die Einführung der Gebühr
       für die Plastiktüte wie sie bereits in vielen Ländern der Welt gang und
       gäbe ist, betont Eroğlu. Er wünscht sich aber zusätzliche Regelungen. Eine
       davon ist, dass in Geschäften kostenlose, stabilere Plastiktüten zum
       Mehrfachgebrauch angeboten werden können. Außerdem solle ein Recyclingfonds
       für die kunststoffverarbeitende Industrie gegründet werden, um die Branche
       während der Übergangszeit zu unterstützen.
       
       Auch wenn die Türkei sich noch schwer tut mit der neuen Regelung, weil sie
       die Menschen von einem Überfluss an Plastiktüten in einen Mangel gestürzt
       hat, auch wenn sich die Menschen wehren und nicht wirklich überzeugt sind –
       langsam gewöhnen sie sich an die neue Situation. Ein trotz mittleren Alters
       fast zahnloser Mann, der zwei Milchtüten übereinander in der Hand
       balancierend aus dem BIM-Supermarkt herauskommt, nimmt es gelassen: „Früher
       hatten wir im Dorf immer einen Behälter dabei, der Behälter wurde vom
       Verkäufer gewogen und dann hat er ihn gefüllt. Jetzt haben wir Tüten dabei,
       wenn wir in den Supermarkt gehen. Wir werden uns daran gewöhnen.“
       
       Aus dem Türkischen von Judith Braselmann-Aslantaş
       
       25 Jan 2019
       
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