# taz.de -- Wirsind positiv
       
       > Menschen mit HIV bekommen in der Türkei zwar neueste Medikamente. Von der
       > Gesellschaft werden sie aber nach wie vor stigmatisiert. Zwei Protokolle
       
 (IMG) Bild: Oğuzhan Latif Nuh, 24 Jahre alt, HIV-Diagnose 2016
       
       Von Barış Altıntaş und Elisabeth Kimmerle
       
       Während weltweit die Zahl der HIV-Infektionen in den meisten Ländern
       zurückgeht, ist die Türkei eines der Länder, in denen sich immer mehr
       Menschen infizieren. Laut Deniz Gökengin, Spezialistin für Infektiologie an
       der Ege-Universität in Izmir, hat sich die Infektionsrate in den
       vergangenen zehn Jahren verzehnfacht. Von 1985 bis 2018 hat das türkische
       Gesundheitsministerium 20.293 Menschen mit HIV registriert. Zwar ist die
       Zahl der HIV-Infektionen in der Türkei im Vergleich mit anderen Ländern
       nach wie vor eher niedrig. Gökengin geht aber davon aus, dass die
       Dunkelziffer doppelt so hoch ist.
       
       Çiğdem Şimşek, Vorstandsmitglied des Vereins Pozitif-iz („Wir sind
       positiv“), sagt: „Wir sehen nur die Spitze des Eisbergs.“ Ihr Verein hat es
       sich zum Ziel gesetzt, Menschen mit HIV-Diagnose zu unterstützen und das
       Bewusstsein in der Gesellschaft für die Infektion zu erhöhen. Den Anstieg
       der Infektionsrate in der Türkei führt sie auf leichteren Zugang zu Sex in
       Verbindung mit unzulänglicher Präventionsarbeit und Bildung in sexueller
       Gesundheit zurück. Der Hauptübertragungsgrund der Infektion ist immer noch
       ungeschützter Sex.
       
       Zivilgesellschaftliche Organisationen und Betroffene finden, dass der
       Zugang zu Medikamenten und zur Behandlung von HIV in der Türkei gut
       geregelt ist. HIV-positive Personen werden aber immer noch stigmatisiert
       und diskriminiert. „Die Ursache dafür ist Unwissen und mangelndes
       Bewusstsein“, erklärt Deniz Gökengin. „Nicht nur die Gesellschaft, auch das
       Pflegepersonal denkt immer noch, HIV sei eine tödliche Krankheit, die in
       alltäglichen zwischenmenschlichen Beziehungen übertragen wird. Alle haben
       Angst, dass sie sich anstecken.“
       
       Auch wenn viele wegen der Stigmatisierung ihre Identität nicht öffentlich
       machen wollen, werden die Stimmen von Menschen in der Türkei, die mit HIV
       leben, lauter. taz gazete hat mit zwei von ihnen gesprochen.
       
       ## Oğuzhan Latif Nuh, 24, Student, Diagnose 2016
       
       Als ich meine Diagnose bekommen habe, hatte ich gerade mein Studium
       abgebrochen. Ich habe in einer Bar gearbeitet und mich auf die
       Eingangsprüfungen für ein neues Studium vorbereitet. Die HIV-Diagnose hat
       mein Leben komplett auf den Kopf gestellt. Zuerst dachte ich, dass alles,
       was ich im Leben erreichen wollte, nun unmöglich geworden sei. Ich wurde
       depressiv und habe meine Wohnung monatelang nicht verlassen.
       
       Dann habe ich angefangen, mich zu informieren, und verstanden, dass meine
       Ängste daher rührten, dass ich nicht genug über HIV wusste. Ich habe
       festgestellt, dass heutzutage Menschen, die mit HIV leben, ihr Leben normal
       weiterführen können, wenn sie in Behandlung sind. Nach der Diagnose rief
       ich sofort meinen Freund an und forderte ihn auf, auch einen Test zu
       machen. Als sein Test negativ war, wollte ich mich von ihm trennen. Doch er
       blieb bei mir und unterstützte mich. Neben meinem Freund erzählte ich engen
       Freund*innen, dass ich HIV-positiv bin. Ohne die Unterstützung meiner
       Freund*innen und meines Partners wäre ich aus der Depression nicht
       herausgekommen. Eine HIV-Diagnose zu bekommen kann dich unglaublich einsam
       und hilflos fühlen lassen; vor allem, wenn du zu einer Gruppe gehörst, die
       in der Gesellschaft ohnehin schon nicht akzeptiert wird.
       
       Die HIV-Diagnose hat meine Freundschaften stärker gemacht. Gleichzeitig hat
       sie dazu geführt, dass ich mich von meiner Familie entfernt habe, weil sie
       nicht besonders verständnisvoll darauf reagiert hat, dass ich schwul bin.
       Ich habe beschlossen, ihr erst von der Diagnose zu erzählen, wenn unsere
       Beziehung sich verbessert hat.
       
       Weltweit leben ungefähr 37 Millionen Menschen mit HIV. Diese Menschen sind
       nicht nur Homosexuelle, Sexarbeiter*innen und Drogenabhängige. Das ist eine
       Infektion, die durch einen Virus verursacht wird. Es ist völlig
       gleichgültig, ob sie Mütter, Väter, Kinder, Anwält*innen, Lehrer*innen oder
       Ärzt*innen sind.
       
       Ironischerweise werden HIV-Positive in der Türkei am meisten in
       Krankenhäusern stigmatisiert. Die Sekretär*innen und Krankenpfleger*innen
       sind nicht sensibel genug, wenn es um HIV geht. Es kommt vor, dass die
       Krankenschwester beim Blutabnehmen sagt: „Ich ziehe mir lieber Handschuhe
       an“, wenn sie erfährt, dass ich HIV-positiv bin.
       
       ## Sevgi Yılmaz, 40, Lehrerin, HIV-Diagnose 2005
       
       Ich habe Glück gehabt. Meine Familie hat mich von Anfang an sehr
       unterstützt. Ich hatte nur Schwierigkeiten, es meiner Tochter zu erklären.
       Bei mir wurde Aids im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert. Weil ich
       lange Zeit im Krankenhaus war, hatte sie Angst, mich zu verlieren. Ich
       konnte ihr erst vier Jahre nach meiner Diagnose erzählen, was los ist.
       Davor habe ich mich von einer Kinderpsychologin beraten lassen.
       
       Anfangs wollte ich ihr nicht alles erzählen, weil es sie verwirrt hätte.
       Deshalb habe ich ihr nur vermittelt, dass sie keine Angst zu haben braucht
       und dass mir nichts passiert. Es fiel mir auch schwer, meiner Tochter von
       der Diagnose zu erzählen, weil ich mich bei meinem Exmann angesteckt habe.
       Er ist ihr Vater. Als sie mich gefragt hat, woher ich den Virus habe, habe
       ich ehrlich geantwortet. „Ich habe mich bei deinem Vater angesteckt. Er hat
       es nicht gewusst und gewollt.“
       
       Inzwischen bin ich mit einem HIV-negativen Mann verheiratet, der im
       Gesundheitssektor arbeitet. Meine HIV-Infektion stand nie zwischen uns, sie
       beeinträchtigt nicht einmal unseren Alltag.
       
       Ich bin dankbar, weil ich durch die HIV-Diagnose viel gelernt habe. Ich bin
       dadurch stärker geworden und habe tolle Menschen kennengelernt. Ich kann
       sagen, dass ich die einzige HIV-positive Frau in der Türkei bin, die die
       Interessen von Betroffenen vertritt. Es tut mir gut, ein Vorbild für
       Menschen zu sein, die gerade ihre Diagnose bekommen haben, und sie dabei zu
       unterstützen, ihr Leben mit HIV zu normalisieren. Und zugleich als
       heterosexuelle Mutter ein Beweis dafür zu sein, dass HIV keine Krankheit
       ist, die nur Homosexuelle betrifft.
       
       Was den Zugang zu Medikamenten und Behandlung angeht, haben wir hier in der
       Türkei Glück. Die neuesten Medikamente sind vorrätig. Die Probleme erleben
       wir eher im Gesundheitswesen und im sozialen Umfeld. Am meisten
       stigmatisiert werden wir im Gesundheitssektor und von
       Krankenpfleger*innen, weil sie nicht genug über HIV wissen. In der
       Universität steht es nicht im Curriculum, deshalb schließen sie das
       Medizinstudium auf diesem Gebiet mit Halbwissen ab.
       
       2 Feb 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Barış Altıntaş
 (DIR) Elisabeth Kimmerle
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA