# taz.de -- Die Zelle
> Seit fünfzig Jahren kämpft das autonome Zentrum in Reutlingen für eine
> buntere Kulturlandschaft. Sie holten die Toten Hosen in die Stadt und
> besetzten einen Kinosaal. Aberwas ändert sich, wenn ein Jugendzentrum alt
> wird?
(IMG) Bild: „Würg!“ Demonstration vor der Zelle in den Achtzigern
Von Leonie Ruhland
Fünfzehn junge Erwachsene platzen ins Reutlinger Rathaus. Sie haben ihre
Gesichter schwarz angemalt und tragen einen Sarg die Treppe hinauf. Darin
ist „der Dialog vergraben“, steht auf ihrem Banner. Trommelschläge und
Trillerpfeifen begleiten den Zug, anwesende Lokalpolitiker blicken
schockiert. Die jungen Leute protestieren dagegen, dass ihr Haus abgerissen
werden soll. So kann man es in Zeitungsartikeln aus dem Mai 1981 nachlesen.
Der „Kulturschock Zelle e. V.“ ist einzigartig in einer konservativen Stadt
wie Reutlingen. Mehrmals stand das autonome Zentrum kurz vor dem Aus,
zweimal mussten die Mitglieder für eine neue Bleibe kämpfen. „Von braven
Bürgern seit Anbeginn mißtrauisch beäugt und angefeindet, ist das einzige
Reutlinger Jugendhaus in Selbstverwaltung auch der Stadtverwaltung seit
Jahren schon ein Dorn im Auge“, schreibt eine Lokalzeitung im Jahr 1981.
Dennoch kann das Zentrum heute auf 50 Jahre Geschichte zurückblicken.
Angefangen hat alles am 2. August 1968, als eine Gruppe von etwa zehn
Leuten eine Galerie in der Innenstadt Reutlingens eröffnet, die mit
avantgardistischer Kunst provoziert. Die Mittzwanziger sind gelangweilt vom
verstaubten Reutlingen. Einer Stadt, in der gefühlt alle CDU wählen und
deren Kultur aus Symphoniekonzerten und klassischem Theater besteht.
Noch heute wirkt das bunte Zelle-Haus wie ein Kanarienvogel in einer grauen
Stadt. Es liegt inzwischen auf einer kleinen Halbinsel, eingerahmt von
Bäumen und dem Fluss Echaz. Eine Welt mit eigenem Garten, Sofas und
Feuerstelle. Immer noch versuchen sie damit, aus dem tristen Stadtbild
auszubrechen. Aber es ist schwieriger geworden.
Jana Schönwetter ist eines von nur sieben Mitgliedern, die den Verein noch
instand halten. Die 21-Jährige schlägt sich vor allem mit Behörden herum.
„Drogenhöhle“ wird die Zelle in Zeitungsartikeln genannt, oder „Reich des
Verbotenen“. Streitigkeiten um dort stattfindende Partys bestimmen den
Alltag. „Wir mussten viel Energie in den Konflikt mit der Stadt stecken,
anstatt etwas Cooles machen zu können“, sagt Schönwetter, die gerade ihr
abgebrochenes Abitur nachholt und ihre freie Zeit mit Zelle-Arbeit
verbringt. Der Ruf des Vereins ist schlechter geworden.
Das war mal anders. Brigitte Stübner ist Gründungsmitglied. Sie erinnert
sich noch gut an „diese wilde Phase“ in Reutlingen. „Uns war es hier zu
eng. Wir wollten Kunst als Möglichkeit der Bewusstseinsveränderung
schaffen“, sagt sie. Die inzwischen 72-Jährige studierte damals
Psychologie, seit 40 Jahren lebt und arbeitet sie in Rom. Die Gruppe
gründete damals einen Verein und sammelte 200 Mark pro Nase als
Grundkapital. Damit veranstalteten sie Ausstellungen, Lesungen, Konzerte
und Diskussionsrunden. „Das war reinste Anarchie. Wir waren schräge Vögel,
frustrierte Intellektuelle und ein paar Künstler, die davon träumten, in
Düsseldorf oder München zu wohnen“, erzählt Stübner.
Jeder war willkommen in der Zelle. Außer den Rechten. Der Verein stellte
sich klar antifaschistisch und antirassistisch auf, wollte sich politisch
aber nicht eingeengt sehen. „Links bis neutral“, hieß es oft. Lieber
strapazierten die Mitglieder die verstaubten Einstellungen der Reutlinger
Bürgerschaft. Sie schockierten, indem sie auf den Straßen Gartenerde als
Haschisch verkauften oder für eine Rehabilitierung des Nebenhodens
Unterschriften sammelten. Die Kunstwerke der Galerie zeigten nackte Brüste
und Schreckensbilder aus dem Krieg. Die „Zellis“, wie sie sich noch immer
nennen, holten Stücke aus der DDR und den Ostblock-Staaten, brachten
Künstler aus Prag in den deutschen Süden.
Während sie die meisten Reutlinger damit herausforderten, fanden sich auch
viele Unterstützer. Schriftsteller wie Rolf Schwendter oder Künstler wie
Anselm Kiefer waren zu Gast. Reinhard Mey galt damals noch als aufmüpfig,
den Vater von Boris Palmer fanden sie „unerträglich“, aber er passte rein,
war ein „Rebell“ und „machte wenigstens den Mund auf“, sagt Brigitte
Stübner. In späteren Jahren spielten die Toten Hosen, Splash, die
Beatsteaks und Feine Sahne Fischfilet in den Zelle-Hallen. Und das
Kulturdezernat begann, den Verein als kulturellen Raum anzuerkennen.
Gleichzeitig nahmen die Auseinandersetzungen mit der Stadt zu. Einmal
diskutierte der Gemeinderat über den Vorwurf, ein Brandstifter habe vor
seiner Tat acht Gramm Marihuana in der Zelle gekauft. Man machte den Verein
dadurch mitverantwortlich, drohte mit einer Schließung. Später hieß es, der
Verdacht sei nicht begründbar. Häufig kam es zu ähnlichen Vorfällen,
beinahe jährlich stand der städtische Zuschuss auf der Kippe. „Für die
Konservativen, in erster Linie die CDU und die Freien Wähler, war die Zelle
ein Unding, das waren richtige Feinde“, erzählt Wolfgang Rätz, der 1989
zehn Jahre lang Jugendpfleger war, damals ein Posten des Kulturamts. Aber
es gab auch Leute wie Albert Schuler, Mitglied der Freien Wähler. Als
Erster Bürgermeister suchte er auch entgegen der parteiinternen Meinung
einen Ausgleich zwischen den Fronten. „Ich sagte immer: Es kann nicht alles
bleiben, wie es ist. Es gibt andere Meinungen, die man tolerieren muss“,
sagt er heute.
Dennoch hört der Konflikt nie auf. Im April 1993 verschafften sich dreißig
Menschen aus dem Zelle-Umfeld Zugang zu einem Kino am Reutlinger
Hauptbahnhof. Als Handwerker getarnt, schraubten sie die Stuhlreihen ab.
Vier Tage lang wollten sie zeigen, dass dieser Ort wie geschaffen für sie
sei. Aus ihrem alten Domizil sollten sie laut Stadtverwaltung bald
verschwinden. Ein Rockkonzert füllte den Laden bis zum letzten Winkel, bei
einer Vollversammlung konnten alle über die Zukunft der Zelle mitreden, und
die „Volxküche“ verteilte 150 Portionen Tortellini mit Soße. Die Polizei
stand bereit, griff aber nicht ein. „Die Zelle-Leute sagten mir: Mach dir
mal keinen Kopf, das wird alles wieder aufgeräumt“, erinnert sich
Jugendpfleger Rätz, der zwei Tage nach dem Wochenende eine Veranstaltung in
dem Kino zu organisieren hatte.
Tatsächlich verließen die Zellis das Kino am Sonntagabend. Jede einzelne
Schraube drehten sie wieder ein. „Wir durften nicht die Chaoten sein. Wir
wollten ja, dass die uns ernst nehmen“, sagt Ralf Schöttle, der Anfang der
1990er Jahre Mitglied wurde und nun von der Kinobesetzung erzählt. Nicht
einmal die Tür war beschädigt, den Schlüssel hatte ihnen ein Freund aus dem
Gemeinderat zugesteckt. Rätz war positiv überrascht: „Das war sauberer als
zuvor.“ Das sagte er auch dem damaligen Kulturbürgermeister Christof
Eichert. „Der war fuchsteufelswild. Das war eine völlig falsche
Information.“ Man habe auf einen Grund zur Verurteilung gehofft. Eichert
selbst sieht sich heute nicht in der Lage, nach so einer langen Zeit „noch
etwas Substanzielles“ anzumerken, schreibt er per Mail.
Im Lauf der Jahre etablierte sich die Zelle. Verschiedene Kulturinitiativen
nutzten die Räume für ihre Veranstaltungen. Und der Verein wurde zum
anerkannten Träger außerschulischer Jugendbildung. „In der Zelle ist mein
politisches Bewusstsein erwacht“, sagt Ralf Schöttle, der damals Sport und
Germanistik studierte. Heute ist er 48 Jahre alt und Oberstufenlehrer. Wie
viele andere sieht er die Zelle als ersten Ort der Emanzipation, als
Schule. „Buchhaltung, Ordnung, gemeinsames Planen und Durchführen, Debatten
und das Hinterfragen von Meinungen – vor allem auch der eigenen. Damit
beschäftigt man sich im Teenageralter eigentlich noch nicht.“
Bald nach der Kinobesetzung bietet die Stadt den Zellis einen neuen Ort an:
die Bobrzyk-Insel, am äußeren Rande der Stadt. Das von den Zellis selbst
geplante Haus besteht aus einer großen Halle, einer Galerie, dem Büro und
einer Werkstatt. Die Mitglieder sind zufrieden. Aber sie machen sich
hinsichtlich des scheinbaren Wohlwollens der Stadt nichts vor: „Hier sind
wir unsichtbar für alle. Das war vermutlich der Gedanke hinter der Insel“,
glaubt Schöttle.
Unsichtbar wird das autonome Zentrum nicht, und die Stadt ärgert sich
weiter. Wie zum Beispiel an einem Samstagabend im Mai 2016. In der Zelle
findet eine Goa-Party statt. Ein Mann um die 40 liegt reglos auf einem
alten, verdreckten Sofa schräg gegenüber der Eingangstür. Eine
Mitarbeiterin rennt zu ihm und überprüft, ob er noch atmet. Er lebt und
Jana Schönwetter holt zwei Sanitäter, die bei Großveranstaltungen
mittlerweile immer vor Ort sind. Die machen eine Herzmassage, der
Krankenwagen wird gerufen, kurze Zeit später treffen auch Polizei und
Ordnungsamt ein. „Die wollten die Party abbrechen, angeblich wegen
gefährlicher Drogen“, erzählt Schönwetter. „Aber der Typ war ja nicht mal
bei uns drin.“
Von dem Vorfall gibt es zwei Varianten. Die Polizei sagt, der 40-Jährige
habe aufgrund eines Alkohol- und Drogenkonsums einen Herzstillstand
erlitten. Die Ermittlungen seien wegen fehlender Kooperation der Zelle
schwierig gewesen. Schönwetter erzählt, der Mann hatte einen Herzfehler,
die Zellis haben ihm das Leben gerettet. Er sei noch mal vorbeigekommen und
habe sich bedankt. „Es ist immer wieder witzig, dass vom Ordnungsamt erst
mal Vorwürfe kommen“, sie rollt mit den Augen. „Wieso wertschätzen die denn
nicht, dass sofort Hilfe vor Ort war?“
Die Zelle braucht die Partys, um die Kosten zu decken. Politiker befürchten
dagegen einen rechtsfreien Raum. Die Polizei soll mehr Kontrolle bekommen.
Die Zellis hingegen verstehen ihren Verein als Schutzraum. „Das Gesetz gilt
für alle und die Befugnisse von denen, die es durchsetzen, sind nicht
verhandelbar“, sagt Verwaltungsbürgermeister Robert Hahn. Aber sie seien
auf einem guten Weg. „Die Zelle ist Bestandteil der Jugendkultur und es
gibt niemand, der da etwas dran ändern will.“
Letztlich ist es eine Hassliebe zwischen der Zelle und der Stadt: Sie
brauchen sich gegenseitig. Auch wenn das niemand zugeben will.
26 Jan 2019
## AUTOREN
(DIR) Leonie Ruhland
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