# taz.de -- Gedenkstätte für das Dersim-Massaker: Ein Zeichen von Ankommen
       
       > Vor 81 Jahren wurden in Ostanatolien rund 70.000 Aleviten getötet. Seit
       > Längerem schon wird über eine Gedenkstätte in Berlin gestritten.
       
 (IMG) Bild: Bewohner der Desrim-Region, bewacht von türkischen Soldaten, kurz bevor sie in andere Landesteile umgesiedelt wurden. (Archivbild von 1938)
       
       Mahmut Yıldız streicht über seinen Bart und nippt an seiner Tasse. „Sie
       wühlen ständig in meinem Gedächtnis herum“, sagt der alevitische
       Geistliche. Dann umfasst er mit beiden Händen fest den Griff seines
       markanten Gehstocks. Eine Weile sitzt er so da im Café am Heinrichplatz im
       Berliner Stadtteil Kreuzberg und beobachtet die Passanten draußen.
       
       „Sie“ – damit meint Yıldız Nachkommen von Überlebenden und andere, die sich
       für die Ereignisse von vor 81 Jahren interessieren. „Mit der Zeit ist mir
       das Erinnern zur Pflicht geworden.“ Mahmut Yıldız ist einer der letzten
       Zeitzeugen des Massakers in der ostanatolischen Provinz Dersim in den
       Jahren 1937/38. Und wenn man den zuweilen nachdenklich, dann wieder heiter
       bis jovial wirkenden 86-Jährigen nicht mit bohrenden Fragen an seine
       „Pflicht“ erinnert, schweift er ab, hält Vorträge über die Kultur der
       Kızılbaş-Aleviten in und um Dersim. „Die Dersimer sind ein naturverbundenes
       Volk, ihr Glaube ist humanistisch.“
       
       Viele Aleviten in Berlin kennen und respektieren den Dede, wie alevitische
       Geistliche auch genannt werden. Der Dede aus Kreuzberg hat sich auch zur
       Lebensaufgabe gemacht, Sprache und Kultur an die jüngere Generation
       weiterzugeben. Beides wäre mit dem Tod, der Vertreibung und der
       Assimilierung Tausender Dersimer fast vernichtet worden. Hinzu kommt die
       Arbeitsmigration Ende der 1960er Jahre. 200.000 Dersimer leben
       schätzungsweise in Deutschland, viele davon bereits in der zweiten und
       dritten Generation.
       
       Nach einem langen Seufzer spricht Yıldız alias Mahmut Dede endlich über
       Details der Ereignisse aus den 1930er Jahren: „Es hieß irgendwann: Der
       Staat kommt nach Dersim und bringt uns Wege, Brücken und Schulen. Vor
       allem: Er bringt uns die Freiheit. Das Volk war mehr als bereit für die
       neue türkische Republik. Es hatte die Dynastie der Osmanen, die Soldaten
       einzogen und im Gegenzug nichts zurückgaben, satt.“
       
       Yıldız’ Vater war damals Steuereintreiber. Die türkischen Behörden trugen
       dem pflichtbewussten Staatsdiener auf, die Dorfbewohner zur Abgabe ihrer
       Waffen zu bewegen. Was diese dann auch taten. Das sollte sich als fataler
       Fehler erweisen. „Keiner ahnte, dass die Soldaten Schlimmes mit uns
       vorhatten“, sagt Yıldız .
       
       ## „Tertele“ – des Tags, an dem die Welt unterging
       
       Es gibt kaum eine Familie aus Dersim, die nicht von dem Massenmord mit bis
       zu 70.000 Toten direkt oder indirekt betroffen ist. „Darüber öffentlich zu
       sprechen, war aber bis vor einigen Jahren tabu“, sagt Yıldız. Erst mit
       Gründung des ersten Kulturvereins der Dersimer im Jahre 1993 in Berlin
       fanden Gedenkveranstaltungen statt. Irgendwann aber war das nicht mehr
       genug. Die Dersimer wagten sich aus der Halböffentlichkeit der
       Vereinsräume. Anfang Mai diesen Jahres gedachten sie im Andachtsraum des
       Bundestags des 81. Jahrestags der „Tertele“ – des Tags, an dem die Welt
       unterging: So bezeichnen die Dersimer das Massaker.
       
       Die Gemeinde will seit 2015 mit einem Mahnmal in Kreuzberg auch ein
       sichtbares Zeichen setzen. Damals wandte sich dessen Vorsitzender Kemal
       Karabulut an den Bezirk. „Die Dersimer wollen einen würdigen Ort, an dem
       sie um ihre Großmütter und Großväter trauern können“, meint Karabulut.
       Grüne und SPD stellten in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV)
       Friedrichshain-Kreuzberg einen Antrag auf Errichtung eines öffentlichen
       Denkmals.
       
       Anfang 2016 kam es zum Eklat in der BVV. National gesinnte türkische
       Organisationen, darunter die Türkische Gemeinde zu Berlin, protestierten
       gegen das Mahnmal. „Die Dersim-Kulturgemeinde kann gerne auf ihrem eigenen
       Grundstück ein Denkmal errichten. Wir wenden uns gegen eines auf
       öffentlichem Boden“, sagte der damalige Vorsitzende der Türkischen
       Gemeinde, Bekir Yılmaz der taz.
       
       Seitdem hält die Debatte im Bezirk an. Im Kern geht es bei dem Konflikt
       darum, wie die Ereignisse in den Jahren 1937/38 zu bewerten sind: War das
       ein Genozid? Ein Massaker? Nationalisten sprechen gerne von der
       Niederschlagung von widerständigen Stämmen. Die vielen Toten seien demnach
       Kollateralschäden bei der Gründung der modernen türkischen Republik
       gewesen.
       
       „Als Bezirkspolitiker sind wir mit diesen Fragen überfordert. Das ist Sache
       der internationalen Politik“, meint Timur Husein von der CDU. Kenan Kolat
       vom Berliner Zweig der türkischen Oppositionspartei CHP spricht von einer
       „menschlichen Katastrophe“, nicht aber von einem Genozid. „Die Parlamente
       anderer Länder wie Deutschland sollten sich nicht in diese innertürkische
       Auseinandersetzung einmischen.“
       
       Kolat hat dabei auch die Bundestagsresolution zum Genozid an den Armeniern
       von 2016 im Hinterkopf. Auch diese löste Proteste in der türkeistämmigen
       Community aus.
       
       Husein indes will ein mit öffentlichen Geldern errichtetes Mahnmal auch aus
       anderen Gründen nicht haben: „Ich habe ein Problem damit, dass öffentlich
       eines Ereignisses gedacht werden soll, das mit Deutschland nichts zu tun
       hat.“ Wenn dann auch noch andere Gemeinden wie vielleicht die Bosnier oder
       Kroaten mit einem ähnlichen Wunsch kämen, „würde uns das gänzlich
       überfordern“, glaubt der CDU-Mann.
       
       Der Streit um das Mahnmal schlug über den Bezirk hinaus hohe Wellen. Selbst
       der türkische Konsul rief die Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann an.
       Unter Experten gibt es keine einheitliche Bewertung der Ereignisse von
       1937/38, es gibt auch keinen Beschluss, der besagt: Das war ein Genozid.
       
       ## Entscheidung vertagt
       
       Um den Konflikt nicht noch zu verschärfen, vertagte die BVV die
       Entscheidung über die Errichtung eines Mahnmals und beschloss, zunächst ein
       Kolloquium zum Thema Erinnerungskultur in der Migrationsgesellschaft
       abzuhalten. Das fand dann auch Ende letzter Woche statt.
       
       Von einem langen Spaziergang durch Kreuzberg ist Mahmut Dede müde geworden.
       Zu Hause legt er sich erst einmal aufs Sofa. An der Wand hängen zwei
       anatolische Langhalslauten, der Dede komponiert und singt alevitische
       Lieder. Nach und nach entfalten sich aus seinen Erzählungen Bilder des
       Grauens vor dem Zuhörer.
       
       „Ich war damals sechs. Mein Vater, mein Bruder und ich, wir befanden uns
       auf der Alm.“ Die Mutter war zusammen mit zwei kleineren Geschwistern im
       Dorf zurückgeblieben. „Niemand glaubte zu dem Zeitpunkt ernsthaft, dass die
       Soldaten auch Frauen und kleinere Kinder töten würden.“ Zusammen mit
       einigen Verwandten und anderen Dorfbewohnern entkamen Mutter und Schwestern
       nicht den Massenerschießungen. Der Rest der Familie floh vor den
       anrückenden Soldaten.
       
       ## Überall tote Tiere und verweste Leichen
       
       „Ich sehnte mich nach einem Bett und nach meiner Mutter. Während sich die
       Erwachsenen unterhielten, stahl ich mich fort und rannte runter ins Dorf.
       Was sehe ich? Unsere Tiere waren alle tot. Überall Spuren der Verwüstung.“
       Die Überlebenden fanden verweste Leichen, erkannten die Verwandten an den
       Kleidern und begruben sie noch in derselben Nacht.
       
       Die Teilnehmer des Kolloquiums rangen am vergangenen Donnerstag und Freitag
       um Ideen, wie eine „inklusive Erinnerungskultur“ aussehen könnte. Gülșah
       Stapel, Expertin für Erinnerungskultur und Stadtforschung, hat für die
       Argumente der Gegner des Mahnmals kein Verständnis. „Denkmäler von
       Eingewanderten sind in anderen Ländern öfters zu finden. Deutsche Denkmäler
       in Chile zum Beispiel – darunter welche mit der Aufschrift ‚Unseren
       Kriegsgefallenen‘ – haben mit dem jeweiligen anderen Land auch nicht viel
       zu tun.“
       
       Beliebig sei eine Denkmalerrichtung dabei nicht. Man müsse gute Argumente
       haben. „Es ist aber ein Zeichen von Ankommen, wenn die Dersimer ihr Recht
       auf Erinnerung und damit Teilhabe an der hiesigen Gesellschaft einfordern“,
       meint Stapel.
       
       ## In andere Landesteile umgesiedelt
       
       Für Trauer blieb 1938 keine Zeit. Die übrig gebliebenen Dersimer sollten in
       andere Landesteile umgesiedelt werden. So sah es ein Beschluss des
       türkischen Kabinetts vom 4. Mai 1937 vor. „Sie sammelten uns ein. Zu Fuß
       mussten wir zunächst ins benachbarte Elazığ, dann im Zug nach
       Westanatolien. Die Leute litten unter Hunger und Durst.“ Den Vater haben
       sie gefoltert, vermutet Yıldız. Nach vier bis fünf Jahren Aufenthalt in
       Antalya kehrten er und der Rest der Familie zurück nach Dersim.
       
       „Eines Tages machten wir mit der Klasse einen Ausflug an einen nahe
       gelegenen Wasserfall. Der Lehrer zeigte uns Schädel.“ Es waren die
       Überreste der 1938 Ermordeten. „Seht, der hier ist von einem
       Siebenjährigen, der hier von einer Frau.“ Bei diesem Anschauungsunterricht
       brach der Lehrer weinend zusammen. „Sein Vater wurde auch in der Gegend
       ermordet“, erfuhr Yıldız später.
       
       Über ein Mahnmal in Berlin würde sich Yıldız freuen. „Ich kann mich an die
       Maschinengewehrsalben, die Bombenflieger und die Schreie der Menschen
       erinnern, als wäre das alles vor Kurzem erst passiert.“ Eine Antwort auf
       die Frage: War das ein Genozid oder Massaker?, konnte und wollte das
       Kolloquium nicht geben. „Die BVV muss aber bald eine Entscheidung treffen“,
       meint Werner Heck von den Grünen.
       
       4 Dec 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hülya Gürler
       
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