# taz.de -- Aura und Notwendigkeit
       
       > Nicht einmal die Infrastruktur ist unschuldig. Zwei Bücher beschäftigen
       > sich mit ihr als Herrschaftsinstrument und mit ihren soziokulturellen
       > Implikationen
       
       Von Frederic Jage-Bowler
       
       Rund 160 Milliarden Euro. So hoch beziffert das Deutsche Institut für
       Urbanistik den Investitionsrückstand bei Ausgaben in die Infrastruktur der
       Bundesrepublik. Jüngst wurde wieder mehr Engagement von Bund und Kommunen
       gefordert. Dabei haben allein Letztere für dieses Jahr schon eine Erhöhung
       ihrer Ausgaben um 3 Milliarden Euro beschlossen. Reicht nicht, monieren die
       Expertinnen und Experten. Schließlich fehlt beispielsweise 61 Prozent der
       Kommunen Geld für Instandhaltung und Neubau ihrer Verkehrsinfrastruktur,
       16 Prozent vermeldeten gar einen „gravierenden Rückstand“.
       
       Aber brauchen wir wirklich ein besseres Verkehrsnetz? Quer durch die
       politischen Lager scheint man sich hier ausnahmsweise einig zu sein: Trotz
       des Sparzwangs aufgrund der Schuldenbremse sehen die Akteure einhellig den
       Staat in der Pflicht. Dabei ist die Integration von Dienstleistungen und
       Verkehrswegen in Deutschland auf historisch einzigartigem Niveau, von der
       negativen demografischen Entwicklung gar nicht zu sprechen.
       Infrastrukturprojekte rauben Geld und Nerven. Warum also soll immer weiter
       gebaut werden?
       
       Ein wichtiger Grund, so der Historiker Dirk van Laak, ist, dass
       Infrastruktur nach wie vor als ideologiefernes Politikfeld gilt. Er
       schreibt, ihr genereller Expansionszwang und ihre meist in eine utopische
       Zukunft weisende Form verliehen ihr eine „Aura der Notwendigkeit“. „Alles
       im Fluss“ ist ein Beitrag zur Geschichte von Infrastruktur.
       
       Darin unternimmt der Leipziger Historiker nicht bloß eine umfassende
       Betrachtung eines oft unterschätzten Gegenstands. Denn die beispiellose
       Entwicklung, vom Eisenbahnnetz des 19. bis zur Glasfaserverkabelung des 21.
       Jahrhunderts, hat natürlich soziokulturelle Implikationen. Geht es nach van
       Laak, sind diese in ihrem Ausmaß mindestens genauso gewaltig.
       
       Infrastrukturen sind für den Autor Vorleistungen, die erbracht werden
       müssen, damit Industriegesellschaften funktionieren. Schon ihre
       begriffliche Bestimmung als „Unter-Struktur“ deute ihre weitgehende
       Unsichtbarkeit an. Es überrascht daher also nicht, dass sie in den
       Geschichts- und Sozialwissenschaften lange kaum Beachtung fand. Der Blick
       auf sie tut aber not, denn in ihnen spiegeln sich 200 Jahre Funktionalismus
       und Beschleunigungstendenz.
       
       Besonders interessieren van Laak Vorgänge der Gewöhnung und der habituellen
       Abrichtung, die die Anbindung an Infrastrukturen dem Einzelnen abverlangen.
       Telefon, Kanalisation und Straßenverkehr würden gleichsam zur zweiten
       Natur. Man nimmt Infrastruktur erst wahr, wenn etwas ins Stocken gerät. Ihr
       möglichst reibungsloser Vollzug wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts
       alleiniger Aufgabenbereich einer wachsenden „Funktionselite“. Eine der
       politischen Pointen der vorliegenden Studie ist sicherlich, dass sich
       solche Ingenieure in der Vergangenheit besonders anfällig für autoritäre
       Regime gezeigt haben.
       
       In seiner Studie „Infrastruktur. Ein Schlüsselkonzept der Moderne“ zitiert
       Steffen Richter einen Oberleutnant in Gustav Frenssens Kolonialroman „Peter
       Moors Fahrt nach Südwest“: „Diese Schwarzen haben den Tod verdient, nicht
       weil sie gegen uns aufgestanden sind, sondern weil sie keine Häuser gebaut
       und keine Brunnen gegraben haben.“
       
       Er spielt auf den 1904 von der deutschen Kolonialmacht verübten Genozid an
       den Herero auf dem Gebiet des heutigen Namibia an. Infrastruktur als
       Rechtfertigung für Massenmord?
       
       Auf der Suche nach den Ursprüngen der infrastrukturellen Herrschaft legt
       Richter in seinen Lektüren von deutscher Prosa der zweiten Hälfte des
       langen 19. Jahrhunderts ein komplexes Wissen über globale Vernetzungen
       frei, das man in Gustav Frenssens Weltbezwinger-, in Fontanes Heimat- oder
       in Wilhelm Raabes Heimkehrererzählungen so gar nicht erwartet hätte.
       
       Anders als van Laak sieht Richter Infrastruktur nicht primär als Fließraum,
       sondern als eine Art Medium. Dies wiederum ermöglicht es ihm, seinen
       Gegenstand mit allerlei voraussetzungsstarker Kulturtheorie in Verbindung
       zu bringen. In seiner definitiv anspruchsvolleren Abhandlung gelingt ihm
       ein überzeugendes Panorama einer zutiefst widersprüchlichen Thematik.
       Unweigerlich steht irgendwann die Frage im Raum: Was ist heute eigentlich
       nicht Infrastruktur?
       
       17 Nov 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Frederic Jage-Bowler
       
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