# taz.de -- Stadtumbau in der Türkei: „Wir sollten unseren Kiez verteidigen“
       
       > Das Istanbuler Viertel Kuzguncuk war einst multikulturell, dann zog es
       > Künstler an. Doch nun droht der familiären Atmosphäre dort ein Ende.
       
 (IMG) Bild: Kuzguncuk ist für seine alten Holzhäuser bekannt
       
       Es ist ein Sonntagvormittag im September. Der Himmel ist blau, es weht ein
       leichter Wind – ein Spätsommertag, wie er schöner nicht sein kann. Das gute
       Wetter ist in diesem Jahr immer öfter eine Einladung für viele Istanbuler,
       sich auf den Weg zu machen zu einem kleinen Ort am asiatischen Ufer des
       Bosporus. Hier ist es in diesem Sommer an jedem Wochenende voll, die
       Menschen drängen sich auf dem zentralen Platz direkt am Wasser.
       
       An Sonntagen wie diesen haben die Einheimischen keine Chance, wie gewohnt
       ihren Frühstückskaffee in ihrem Stammcafé zu trinken. Es ist einfach zu
       voll. Das gilt auch für die Hauptstraße, wo sich mittlerweile Café an Café
       reiht und die Bürgersteige so eng mit Tischen zugestellt sind, dass es kaum
       noch ein Durchkommen gibt.
       
       Willkommen in Kuzguncuk, der neuen Attraktion für Istanbuler, die aus ihren
       Betonburgen herauswollen und die es zu einem Ort in der Millionen-Metropole
       zieht, wo es grünt und blüht, wo die Straßen von alten Platanen gesäumt
       sind und die Häuser, oft noch aus Holz, nicht mehr als zwei Stockwerke hoch
       sind.
       
       ## Der Zusammenhalt von Kuzguncuk geht verloren
       
       Doch schon bald könnte es vorbei sein mit der Idylle, in der bislang knapp
       tausend Menschen lebten. „Kuzguncuk hat sich in den letzten Jahren sehr
       verändert“, sagt die Malerin Ursula Katipoğlu, 69 Jahre alt. „Früher kannte
       ich hier jeden Menschen, wenn ich durch den Ort lief, heute kaum noch
       jemanden. Der familiäre Charakter von Kuzguncuk ist verloren gegangen.“ Die
       Mieten, die mit den neuen Cafés zu erzielen sind, haben alteingesessene
       Läden vertrieben, und die Besuchermassen drohen den sozialen Zusammenhalt
       im Ort zu zerstören.
       
       Schlimmer noch: Die Istanbuler Stadtverwaltung will ein größeres Gebiet am
       Hang oberhalb des historischen Kerns von Kuzguncuk bebauen. Wo jetzt noch
       Wiesen und Schrebergärten und kleine Häuschen das Bild bestimmen und vor
       allem arme Familien leben, sollen bald luxuriöse Wohnhäuser mit Blick auf
       den Bosporus in den Himmel ragen.
       
       Der Friseur Murat Hasoğlu, 41, bei dem die Dorfnachrichten zusammenlaufen,
       sorgt sich ebenfalls um die Zukunft. Murats Salon besteht aus einem zur
       Straße hin offenen winzigen Raum, in dem nur ein einziger Friseursessel
       Platz hat.
       
       ## Bis in die 50er Jahre ein multikulturelles Zentrum
       
       Das Leben spielt sich auf der Straße davor ab, nur im Winter dichtet
       Hasoğlu sein Kabuff mit einer Glaswand ab. Rechts von ihm verkauft der
       Gemüsehändler Tomaten und Auberginen, links von ihm warten die Taxifahrer
       auf Kunden. Fünf Meter weiter liegt der Eingang zur Synagoge, vor dem
       Polizisten wachen. Nur noch eine Handvoll jüdischer Familien lebt in
       Kuzguncuk, aber die Synagoge ist noch in Betrieb.
       
       „Der Gemüsehändler“, sagt Hasoğlu, „will jetzt auch seinen Stand verlegen,
       weil sein Sohn an der Stelle eine Teestube eröffnen will.“ Er macht sich
       Gedanken, wie lange er mit seinem Friseursessel noch bleiben kann. Sein
       Freund, der Bäcker Mustafa Unslu, 38, klagt, bei dem Trubel könne er in
       den Sommernächten sein Fenster nicht mehr öffnen, so laut sei es geworden.
       Auch neben seiner Backstube hat ein Café eröffnet.
       
       Die Malerin Ursula Katipoğlu und ihr Mann Yusuf, ebenfalls ein Maler, kamen
       Anfang der 70er Jahren nach Kuzguncuk. Er stammt aus Trabzon am Schwarzen
       Meer, sie aus dem Wallis in der Schweiz. Sie waren die ersten Künstler, die
       sich für wenig Geld in einem der vielen leerstehenden alten Holzhäuser
       niederließen, die vor sich hin verwitterten.
       
       ## Als erste verschwanden die Armenier
       
       Bis in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts war Kuzguncuk ein
       multikulturelles Zentrum. Viele Griechen, Juden und Armenier lebten hier,
       der jüdische Friedhof war einst der größte von Istanbul. Als Erste
       verschwanden nach dem Völkermord 1915 die Armenier, nach der Gründung des
       Staates Israel folgten viele Juden, und die Pogrome gegen die griechische
       Minderheit 1955 zwangen griechisch-orthodoxe Einwohner, Kuzguncuk zu
       verlassen.
       
       Zurück blieben Kirchen und Synagogen und viele leere Häuser, die nach und
       nach verfielen. Zuwanderer aus Dörfern am Schwarzen Meer auf der Suche nach
       einer besseren Zukunft übernahmen viele der Bauten. Dennoch drohte der
       historische Bestand an klassischer Holzarchitektur völlig zu verschwinden:
       Die neuen Bewohner wollten lieber in neuen Steinhäusern leben.
       
       Doch als Anfang der 80er Jahre der bekannte Architekt Cengiz Bektaş sein
       Büro in das Bosporus-Dorf verlegte und damit begann, leerstehende
       Holzhäuser für Freunde, Journalisten, Akademiker und Künstler zu sanieren,
       brach eine neue Zeit an.
       
       Der Ort erwachte aus einem jahrzehntelangen Tiefschlaf. Die neuen Bewohner
       gründeten eine Bürgerinitiative, die den Kiez Kuzguncuk erhalten wollte und
       ihn gegen die Neubaupläne der Stadtverwaltung verteidigte. Brennpunkt war
       eine große Freifläche mitten im Ort, die früher als Gärtnerei genutzt wurde
       und auf die sich 1999 die Einwohner flüchteten, um dem Erdbeben zu
       entkommen.
       
       ## Die AKP-Regierung baut und baut und baut
       
       Immer wieder wollte die Stadt dort bauen, immer wieder legten sich die
       Einwohner quer. Jetzt ist der Platz wieder ein Garten, Bezirksverwaltung
       und Anwohner bepflanzen ihn gemeinsam. Doch Istanbul platzt aus allen
       Nähten, die AKP-Regierung baut und baut und baut. Kuzguncuk droht, das
       Schicksal vieler Istanbuler Stadtteile zu erleiden. „Für junge Künstler ist
       hier schon kein Platz mehr“, sagt Malerin Ursula Katipoğlu. Die Mieten
       seien mittlerweile viel zu hoch, um ein Atelier einzurichten.
       
       Aber auch für die alteingesessenen Bewohner wird es eng. „Wir werden aus
       dem Zentrum wegziehen und uns weiter oben an der Ausfahrtstraße eine neue
       Bleibe suchen“, sagt Bäcker Unslu. „Dennoch“ hält Yusuf Katipoğlu, der
       immer wieder die Stadt und den Bosporus porträtiert hat, Kuzguncuk nach wie
       vor für „einen der lebenswerten Plätze Istanbuls. Wir sollten unseren Kiez
       verteidigen.“
       
       Womöglich hilft kein Geringerer als Präsident Erdoğan dabei, der mit der
       Wirtschaftskrise kämpft. Es ist gut möglich, dass die geplanten Neubauten
       oberhalb des Ortskerns auf Eis gelegt werden – weil das Geld fehlt.
       
       2 Nov 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Wolf Wittenfeld
       
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