# taz.de -- Von Wundern und Verlierern
       
       > Zum achten Mal heißt es: Litauisches Kino goes Berlin. Im Filmprogramm
       > spiegeln sich die geopolitischen Grundverhältnisse quer durch alle Genres
       > und Epochen
       
 (IMG) Bild: Digital restaurierter Perestrojka-Hit: „Children from the Hotel America“ (1990)
       
       Von Barbara Wurm
       
       Für Litauen, das sich filmisch zum achten Mal in Berlin präsentiert – auch
       diesmal wieder in den Kinos Sputnik und Acud –, ist die transatlantische
       Idee zentral. Das mag überraschen bei einem Land, das über Jahrzehnte fest
       in sowjetischer Hand war, andererseits ist es gerade deshalb nur allzu
       verständlich. Im Filmprogramm, das Festivalleiterin Giedrė Simanauskaitė
       kuratiert hat, spiegeln sich die geopolitischen Grundverhältnisse
       nachgerade leitmotivisch. Und das quer durch alle Genres und Epochen.
       
       In „Miracle“ (R. Eglė Vertelytė, 2017) gibt es dabei viel zu lachen, auch
       weil Bernardas, Held dieser Komödie im postsowjetischen Schweine-Kolchos,
       Ähnlichkeiten mit Donald Trump hat (rote Krawatte und Baseballcap), mit
       seinem Cadillac bis in den Saustall fährt und so einen leichtvertrottelten
       aber durchsetzungsstarken US-Devisen-Typ abgibt. Das Leben der
       Kolchos-Leiterin Irena, optisch wie operativ das reinste Überbleibsel aus
       Sow-Zeiten (auch aus einem Kaurismäki-Film könnte sie sein), stellt der zu
       seinen litauischen Wurzeln zurückkehrende Investor aus Übersee gewaltig auf
       den Kopf, und die seit Jahren un(ter)bezahlte Koop-Belegschaft scheint dem
       Finanzretter ohnehin zugetan. 1992 hat es zwischen Kommunismus und
       Kapitalismus noch so richtig geclashed; der Stil des absurden Wunders passt
       also gut zur realökonomischen Landtristesse der Wendejahre (2. + 3. 11.).
       
       Auf die weiter zurückliegende Vergangenheit aber auch mit starkem
       US-Blinzeln schauen zwei Klassiker des litauischen Films – und nein, nicht
       die Exil-Film-Legende Jonas Mekas ist gemeint, der im Jahr 100 der (ersten)
       Unabhängigkeit seines Heimatlandes weltweit auf Festivals noch einmal eine
       Ehrenrunde dreht.
       
       Vielmehr holt das Berliner Festival in Kooperation mit dem Lithuanian Film
       Center den traurig-coolen, nun digital restaurierten Perestrojka-Hit
       „Children from the Hotel America“ (gedreht 1990 im wieder unabhängigen
       Litauen) auf die Leinwand, Raimundas Banionis vorsichtigen Verweis auf den
       aufständischen „Frühling von Kaunas“ 1972, der durch die Selbstverbrennung
       des damals 19-jährigen Romas Kalanta eingeleitet wurde – und das
       anschließende Verbot der Sowjetbehörden, an seiner Beerdigung
       teilzunehmen.Banionis belässt die historischen Ereignisse (Wegmarker des
       litauischen Widerstandes gegen ein Dasein als sowjetische Republik) im
       Hintergrund und widmet sich einer kleinen Jung-Hippie-Truppe mit Liebe zu
       Rock ’n’ Roll, die es sich in den Ruinen ihres „Hotels“ – mit Namen
       „America“ eben – einrichten und Wunschmusik-Briefe an das geheime Radio
       Luxemburg schreiben. Ein Freiheitstraum, der platzt und vom Love-in am
       Campingplatz ins Polizei- und KGB-Revier führt (5. 11.).
       
       Der zweite Klassiker ist hierzulande eine Rarität – auch diesen Kultfilm
       aus der kleinen Retro-Sektion gibt es bei gratis Eintritt. „Flight over the
       Atlantic“ wurde von Raimondas Vabalas im nochsowjetischen Jahr 1983 gedreht
       und verlegt das Schicksal seines Landes als Winzling zwischen den
       Großmächten in die Jahre 1927–33, als die litauischen Piloten Steponas
       Darius und Stasys Girėnas transatlantische Fluggeschichte schrieben.
       
       Im allgemeinen Patriotismus-Tohuwabohu der Zwischenkriegszeit nimmt sich
       ihr Heroismus fast nüchtern aus, während die im Stile der ‚real but
       socialist eighties‘ inszenierte Entblößung der Königsberger
       Bier-Hurra-Marsch-Orgien im schwarz-weiß-roten Fascho-Look einerseits und
       des kaugummikauenden US-Chauvinismus andererseits auch auf die große
       abwesende Macht (im Osten) verweisen, denn die litauische Heimat, um die es
       hier geht, erhebt sich gerade aus den Ruinen des russischen Imperiums … (3.
       11.).
       
       Nicht von nationalpolitischen Wundern sondern von wunderbaren Verlierern
       erzählt dagegen der filmische Höhepunkt des Festivals, Arūnas Matelis’
       neuester und von litauischer Seite ins Oscar-Rennen geschickter
       Dokumentarfilm „Wonderful Losers“ über den selbstlosen Kampf am Ende des
       Pulks: Sie sind die eigentlichen Helden des Radrennprofisports, seine
       „Domestiken“ und „Sancho Panzas“. Matelis porträtiert sie während des Giro
       d’Italia, zeigt ihr Fleisch, ihren Schmerz, vor allem aber ihre grenzenlose
       Leidenschaft und schafft ein fast metaphysisches Mikrouniversum
       menschlicher Existenz, das quer zu Staatsgrenzen liegt (3. + 4. 11.).
       
       Flankiert wird dieses Meisterwerk von zahlreichen Kurzfilmprogrammen (mit
       „By the Pool“, „Snake“ u. a.), für die LTKinoGoesBerlin mittlerweile
       genauso steht wie für die Einführung neuer Soundmacher – diesmal:
       Dreampop-Performer Junior A, der am 1. 11 im Acud Club eröffnet.
       
       Litauisches Kino goes Berlin Filmfestival: 1.–5. 11., im Sputnik und Acud,
       Programm: [1][www.ltkinogoesberlin.de]
       
       1 Nov 2018
       
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