# taz.de -- Der Russe ist einer, der Birken liebt
       
       > Der russische Schriftsteller Iwan Sergejewitsch Turgenjew verstand sich
       > als Vermittler zwischen seiner Heimat und einem Europa, dem das
       > Zarenreich vor allem eines war: fremd
       
 (IMG) Bild: „Es entströmt Ihren Werken eine verzaubernde Traurigkeit, die bis in die Tiefe meiner Seele dringt“, schrieb Flaubert an Turgenjew
       
       Von Tobias Schwartz
       
       Russlands Präsident Wladimir Putin zeigt sich gern mit nacktem Oberkörper.
       Ob zu Pferd durch die russische Steppe reitend, beim Schwimmen im kalten
       Gebirgssee, beim Angeln oder auf der Jagd – er gibt sich stark, vor Kraft
       strotzend. Der Russe ist einer, der Birken liebt. Sicher, das auch. Doch
       fürs Subtile scheint es immer weniger Raum zu geben, nicht erst in jüngerer
       Vergangenheit. Die Macho-Posen und sein Macht-Chauvinismus bringen Putin im
       eigenen Land breite Zustimmung.
       
       Die Bewunderung westlicher Beobachter hält sich verständlicherweise in
       Grenzen, da herrscht Befremden vor, wenn nicht Entsetzen. Doch ein Stück
       weit sind diese Jagdposen vor Naturkulisse und das Bild des starken Mannes
       gerade in seiner Körperlichkeit auch Folklore, mit der vor allem die
       ländlichen Bevölkerungsschichten in den östlichen Weiten Russlands
       angesprochen werden soll. So gesehen ist der Unterschied zum deutschen
       Politiker, der beim Karneval mit Narrenkappe Büttenreden schwingt oder im
       Bierzelt dem Trachtentum frönt und populistisch tönt, nur ein gradueller.
       
       „Russland ist doch ein Mitglied der europäischen Familie und werth, besser
       bekannt zu werden, besonders von den Deutschen“, schreibt vor 150 Jahren
       Iwan Sergejewitsch Turgenjew an den deutschen Altphilologen Ludwig
       Friedländer. Da liegt die Herrschaft von Katharina der Großen, einer
       aufgeklärten Deutschen, lange zurück. Zar Nikolaus I., verheiratet mit
       Charlotte von Preußen, starb kurz zuvor, ihm folgte Alexander II. nach, der
       wieder eine Deutsche ehelichte. Turgenjew, der lange abwechselnd in
       Deutschland und Frankreich lebte und von seinen Landsleuten als
       „verweichlichter Westler“ verhöhnt wurde – so sehen uns viele Russen noch
       heute –, verstand sich als Vermittler zwischen seiner Heimat und einem
       Europa, dem das Zarenreich vor allem eines war: fremd.
       
       Einer, der Russland dennoch verstehen wollte, war Gustave Flaubert – schon
       aus Liebe zu seinem Freund und Briefpartner. Flaubert betrieb seine
       russische Landes- und Menschenkunde anhand des voluminösen Erzähl- oder
       Skizzen-Bandes „Aufzeichnungen eines Jägers“ (1852), der Turgenjew berühmt
       machte und jetzt aus Anlass seines 200. Geburtstages am 9. November in Vera
       Bischitzkys gelungener Neuübersetzung erscheint. Diese leichtfüßigen, aber
       schwerwiegenden Aufzeichnungen enthalten lose aneinandergereihte
       Begegnungen und Gespräche eines dem Autor stark ähnelnden Jägers mit
       adeligen Gutsbesitzern, Bauern und sonstigen Landbewohnern. Es geht ums
       Pilzesammeln und um die Jagd vor allem auf Rebhühner, Schnepfen und
       Wildenten.
       
       Einem Putin könnte das gefallen. Turgenjews Zeitgenossen – allen voran der
       Zarismus-Kritiker Alexander Herzen – sahen in dem Werk über die
       Lebensbedingungen der Provinz auch eine Kampfschrift gegen die
       Leibeigenschaft. „Ihre Szenen aus dem russischen Leben (machen mir) Lust
       darauf, inmitten schneebedeckter Felder in einer Telega durchgerüttelt zu
       werden und die Wölfe heulen zu hören. Es entströmt Ihren Werken ein herber
       und lieblicher Duft, eine verzaubernde Traurigkeit, die bis in die Tiefe
       meiner Seele dringt“, schrieb Flaubert an den Verfasser. Das zeugt von
       einer Kompatibilität der Kulturen, wenn nicht der Seelen.
       
       Vom Einfluss der westlichen Kultur auf die russische handelt wiederum
       Turgenjews Roman „Das Adelsnest“, der jetzt unter dem modifizierten Titel
       „Das Adelsgut“ ebenfalls zum Jubiläum in neuer Übersetzung von Christiane
       Pöhlmann erscheint. Es geht um einen Gutsbesitzer, der an die falsche Frau
       gerät, sich in die richtige verliebt und diese aber nicht haben kann,
       weshalb sie ins Kloster geht – ein Roman aus dem 19. Jahrhundert eben.
       
       Das Sujet sei austauschbar, schreibt der Romancier Michail Schischkin im
       Nachwort, zu Recht. Es geht aber um viel mehr als das Sujet, um einen neuen
       Ton in der russischen Prosa, um Turgenjews „poetischen Realismus“, um die
       lyrische Inspiration seines Schreibens. Darüber hinaus liefert auch „Das
       Adelsgut“ (1858) einen Querschnitt durch die russische Gesellschaft – wie
       der noch berühmtere Roman „Väter und Söhne“ (1861) auch, in dem sich der
       klassische Generationenkonflikt fatalerweise umkehrt. Hier rebellieren zwar
       die Söhne gegen die Väter, Turgenjew aber zählt zu Letzteren und tauft die
       Söhne „Nihilisten“, wodurch er für die jüngeren Demokraten in Russland
       quasi zur Persona non grata wird.
       
       Der Russe ist einer, der es einem nicht immer leicht macht, so viel steht
       fest. Um Turgenjew zu verstehen, bedarf es dialektischen Denkens.
       Einerseits proklamiert er mit großem Enthusiasmus die Zugehörigkeit der
       russischen Kultur zum Westen, andererseits betont er ihre Besonderheiten
       und Einzigartigkeit. Er war eben kein Ideologe. Ihn zu lesen hilft nach wie
       vor, Russland zu verstehen. Vielleicht hilft es auch noch darüber hinaus.
       
       3 Nov 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tobias Schwartz
       
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