# taz.de -- Aufstieg von Recep Tayyip Erdoğan: Vom Hoffnungsträger zum Diktator
       
       > Erdoğan kommt am Donnerstag nach Berlin. Wie er sich in einen Autokraten
       > verwandelte und welche Rolle deutsche Journalisten dabei spielten.
       
 (IMG) Bild: Recep Tayyip Erdoğans im November 2002 in Rom
       
       Istanbul taz | Als Recep Tayyip Erdoğans neu gegründete Partei Adalet ve
       Kalkınma Partisi, abgekürzt AKP, am 3. November 2002 einen
       überwältigenden Wahlsieg errang und anschließend die Regierung übernahm,
       war ich seit vier Jahren als Korrespondent der taz in der Türkei. Es waren
       turbulente Zeiten. Im Winter 1999 wurde PKK-Chef Abdullah Öcalan in Kenia
       verhaftet.
       
       Im Sommer erlebte der Westen der Türkei ein schweres Erdbeben, bei dem mehr
       als 20.000 Menschen ums Leben kamen und die industrielle Basis des Landes
       empfindlich getroffen wurde. Im Frühjahr 2001 folgte die schwerste
       Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Für viele Türken waren damit
       dramatische Einkommenseinbußen verbunden, die meisten fühlten sich von der
       Politik im Stich gelassen.
       
       Die Menschen hatten die Politiker satt und suchten nach etwas Neuem. Dieses
       Bedürfnis erfüllte die 2001 gegründete AKP. Sie war nicht durch Skandale
       vorbelastet, sie versprach, den Kampf gegen Korruption und
       Vetternwirtschaft aufzunehmen, und sie hatte einen charismatischen
       Vollblutpolitiker in ihren Reihen: Recep Tayyip Erdoğan.
       
       Die meisten deutschen Korrespondenten hatten damals nur eine vage
       Vorstellung von diesem Mann. Wir wussten, dass er aus der islamistischen
       Bewegung von Necmettin Erbakan kam, hatten im Kopf, dass Erdoğan 1994 als
       40-Jähriger zum Oberbürgermeister von Istanbul gewählt worden war und dass
       er dieses Amt im Frühjahr 1998 aufgeben musste, weil er wegen
       Volksverhetzung angeklagt und verurteilt worden war.
       
       ## Verwandter Geist im Widerstand
       
       Vor allem aber stammte Erdoğan nicht aus den bürgerlichen Kreisen, die
       bis dahin nahezu sämtliche Politiker des Landes gestellt hatten. Er kam von
       ganz unten, aus einer armen Familie, die in Kasımpaşa, einem verrufenen
       Istanbuler Hafenviertel am Goldenen Horn, lebte.
       
       Bevor Erdoğan im Sommer 1999 seine dreimonatige Haftstrafe antreten
       musste, hatte ihn von den deutschen Kollegen lediglich der damalige
       Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, Wolfgang Koydl, getroffen und als
       kalten, ambivalenten Mann porträtiert, von dem aber in der türkischen
       Politik noch die Rede sein werde. Ich bekam meine ersten Informationen über
       Erdoğan damals von dem grünen Politiker Daniel Cohn-Bendit, der ihn als
       Frankfurter Beauftragter für Multikulturelle Fragen getroffen hatte, als
       Erdoğan Oberbürgermeister von Istanbul war. Cohn-Bendit zeigte sich von
       Erdoğan angetan, er sah in ihm einen verwandten Geist im Widerstand.
       
       Mein erstes persönlicher Treffen mit Erdoğan ergab sich auf dessen
       Wahlkampftour im Herbst 2002. Nach mehrstündigem Warten empfing der
       Spitzenkandidat der AKP in seinem Wahlkampfbus kurz vor einem Auftritt in
       der anatolischen Provinzstadt Nevşehir. Mit seinen 190 Zentimetern
       Körpergröße überragte er fast jeden Gesprächspartner, umso überraschender
       war sein schlaffer, kaum mehr als angedeuteter Händedruck.
       
       Erdoğan war und ist bis heute kein Politiker der Umarmungen und des
       Schulterklopfens, er achtet auf körperliche Distanz. Im Gespräch kündigte
       er damals an, er werde es schaffen, die Türkei in die Europäische Union zu
       führen.
       
       ## Positive Abwechslung
       
       Für mich und fast alle anderen westlichen Korrespondenten in der Türkei war
       Erdoğan damals eine willkommene positive Abwechslung von den Politikern,
       die bis dahin das Land geprägt hatten. Er schien offen, sagte scheinbar,
       was er dachte, und verfolgte einen Kurs, der viele auch westliche geprägte
       Intellektuelle begeisterte. Ein islamisch geprägter Mann wollte die Türkei
       in den Christenklub EU bringen und schien bereit, dafür einiges zu tun. Das
       war bemerkenswert. In einem Porträt Ende 2004 schrieb ich:
       
       „In den zwei Jahren der Regierung Erdoğan sind mehr Reformen realisiert
       worden als in den 20 Jahren davor. Meinungsfreiheit und Null-Toleranz gegen
       Folter wurden proklamiert und gesetzlich verankert, kulturelle Rechte für
       die kurdische Minderheit garantiert und die Todesstrafe endgültig
       abgeschafft.“
       
       Heute, 14 Jahre später, kann von Meinungsfreiheit keine Rede mehr sein,
       seit dem Putschversuch im Jahr 2016 wird in Polizeihaft wieder gefoltert,
       die Kurden im Land gelten wieder pauschal als PKK-Sympathisanten und
       „Terrorhelfer“. [1][Erdoğan fordert regelmäßig das Parlament dazu auf,]
       die Todesstrafe wiedereinzuführen.
       
       Wie konnte das geschehen? Die meisten westlichen Korrespondenten – mich
       eingeschlossen – haben die Kritiker Erdoğans, schon damals nicht ernst
       genommen, wenn sie sagten, dass der Mann lediglich ein taktisches
       Verhältnis zur Demokratie, zu westlichen Werten und der Europäischen Union
       hatte.
       
       ## Entmachtung der Widersacher
       
       Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem Mitglied des türkischen
       Wissenschaftsrates. Professor Celâl Şengör befürchtete schon damals, dass
       Erdoğan die Autonomie der Wissenschaft beenden und die Universitäten am
       liebsten wieder in Medresen, die alten religiösen Hochschulen, umwandeln
       würde. Ich hielt Şengör damals für überspannt, für einen verbohrten
       Kemalisten, der seine Vorurteile nicht aufgeben wollte. Mea culpa, Celâl
       Şengör.
       
       Erste Risse in der Fassade des demokratischen Reformers zeigten sich im
       Anschluss an die Wahlen im Jahr 2007. Erdoğans AKP hatte erneut die
       absolute Mehrheit geholt. Mit Abdullah Gül stellte die Partei erstmals auch
       den Staatspräsidenten. Damit waren alle Schalthebel der Macht nun in der
       Hand der Partei. Kurz vor der Wahl hatte der Generalstaatsanwalt noch, wohl
       in Absprache mit Teilen des Militärs, versucht, die AKP verbieten zu
       lassen, und war nur an einer Stimme im Verfassungsgericht gescheitert.
       
       Erdoğan galt das als Signal, die Samthandschuhe auszuziehen und seine
       Widersacher in Militär und Justiz zu entmachten. Mithilfe von
       Sonderanklägern und Sondergerichten, deren Richter fast alle zur später so
       gehassten Gülen-Sekte gehörten, wurden hohe und höchste Militärs
       reihenweise verhaftet und angeklagt, einen Putsch gegen die Regierung
       vorzubereiten.
       
       Seine liberalen Verbündeten im In- und Ausland machten es Erdoğan leicht.
       Solange es gegen die Militärs ging, wollte es niemand mit den Regeln des
       Rechtsstaats so genau nehmen. Das galt auch für die deutschen und anderen
       westlichen Korrespondenten. Lediglich ein US-amerikanischer
       Wissenschaftler, der zudem noch mit der Tochter eines der verhafteten
       Generäle verheiratet war, machte sich die Mühe, in einer akribischen
       Recherche etliche der in den Prozessen vorgelegten „Beweise“ als
       Fälschungen zu demaskieren. Doch er drang damit in den Medien nicht durch.
       
       ## Auf die Barrikaden
       
       Erst als sich Jahre später Erdoğan mit der Gülen-Sekte überwarf und
       nahezu sämtliche der in den Prozessen von 2008 bis 2011 verurteilten
       Offiziere wieder rehabilitiert wurden, erinnerte man sich an die ignorierte
       Warnung.
       
       Kurz zuvor hatte es unter den westlichen politischen Beobachtern erstmals
       erhebliche Differenzen bei der Beurteilung Erdoğans gegeben. Die AKP
       stellte 2010 ein Verfassungsreferendum zur Abstimmung, mit dem die
       Immunität der Junta, die 1980 geputscht hatte, aufgehoben wurde. Zugleich
       aber legitimierte das Gesetz den Zugriff der Regierung auf die Besetzung
       der wichtigsten Ämter innerhalb der Justiz. So begann die Transformation
       der Justiz im Sinne Erdoğans. Nur wenige Korrespondenten kritisierten
       das.
       
       Der Umschwung kam erst 2013. Als große Teile der Jugend des Landes [2][mit
       dem Gezi-Aufstand gegen Erdoğan auf die Barrikaden gingen] und dieser mit
       allen Mitteln bis hin zum Schusswaffengebrauch die Demonstrationen
       niederschlagen ließ, war auch der letzte Fan unter den westlichen
       Korrespondenten schockiert.
       
       Es begann Erdoğans zweite Karriere – die als westlicher Bürgerschreck.
       Ausländische Medien, die ihm bis dahin gewogen waren, änderten ihren Kurs.
       Der Autokrat Erdoğan wurde geboren, ohne dass wir, die Korrespondenten,
       uns fragten, ob wir da in der Vergangenheit nicht etwas übersehen hatten.
       Hatte Erdoğan sich verändert oder hatte er nur nach und nach eine Maske
       nach der anderen abgelegt?
       
       ## Nichts ist unmöglich
       
       Oder hatten sich einfach die politischen Rahmenbedingungen verändert?
       Welche Rolle spielte dabei die EU, allen voran Angela Merkel und der
       damalige französische Präsident Nikolas Sarkozy, die Erdoğan mit seinem
       Beitrittswunsch aus innenpolitischem Kalkül kalt auflaufen ließen?
       
       Leider wurden diese Fragen viel zu selten gestellt, denn jetzt waren sich
       alle Beobachter einig, dass der starke Mann der Türkei vom Demokraten zum
       Autokraten mutiert war. Zum Feindbild des bösen Antidemokraten und
       Diktators für die westlichen Medien wurde Erdoğan, als er nach dem
       Putschversuch im Juli 2016 den Ausnahmezustand verhängte und
       [3][reihenweise Kritiker in den Knast werfen ließ.]
       
       Im Nachhinein fällt aber auf, dass diese Korrespondenten auch bei der
       Beurteilung des Putsches einem gewissen Herdentrieb bei den
       Berichterstattern erlagen. So dubios die Umstände des Putsches waren und so
       sehr Erdoğan das Ereignis zu seinen Gunsten zu nutzen verstand, machte
       sich doch kaum jemand die Mühe, [4][die Rolle der beschuldigten Gülen-Sekte
       wirklich zu untersuchen.] Es könnte ja sein, dass Erdoğan mit seinen
       Vorwürfen nicht völlig unrecht hat und die pauschale Unterstützung, die die
       Gülen-Anhänger in Deutschland derzeit erhalten, so nicht gerechtfertigt
       ist.
       
       Es war schon immer schwer, aus der Türkei differenziert und ergebnisoffen
       zu berichten. Zu vielschichtig ist das Land, zu stark sind die
       gesellschaftlichen Unterströmungen, die auf politische Entscheidungen einen
       Einfluss haben, als dass man sie leicht einordnen kann. Nach zwanzig Jahren
       als Korrespondent am Bosporus habe ich gelernt, dass vieles nicht so ist,
       wie es scheint, und die Dinge sich auch ganz schnell wieder ändern können.
       In der Türkei ist nichts unmöglich.
       
       26 Sep 2018
       
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       ## AUTOREN
       
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 (DIR) Schwerpunkt Türkei
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