# taz.de -- Pressefreiheit in der Türkei: Rückkehr der Ultrakemalisten
       
       > Die Cumhuriyet hat eine neue Leitung bekommen – und viele Mitarbeiter
       > verlassen die Zeitung. Aydın Engin, ein Cumhuriyet-Veteran, spricht über
       > die Hintergründe.
       
 (IMG) Bild: Im Rahmen der Ermittlungen gegen die Cumhuriyet wurde Aydın Engin im Oktober 2016 festgenommen
       
       2016 wurden Verfahren gegen Autoren und Leiter der Cumhuriyet eingeleitet.
       Die Vorwürfe: „Unterstützung von Terrororganisationen“ und „Änderung der
       Blattlinie“. 12 Personen, darunter auch der Chefredakteur Murat Sabuncu,
       wurden verhaftet. Nach einem zweijährigen Gerichtsprozess verurteilte das
       Gericht die Mitarbeiter der Zeitung zu Haftstrafen zwischen zwei und sieben
       Jahren.
       
       Am 7. September fiel ein weiterer Richterspruch: Die vergangenen
       Vorstandwahlen der Cumhuriyet-Stiftung, Eigentümerin der Zeitung, sollten
       wiederholt werden. [1][Bei den Neuwahlen wurde Alev Coşkun zum
       Stiftungspräsidenten gewählt]. Coşkun hatte zuvor im Cumhuriyet-Prozess für
       die Staatsanwaltschaft ausgesagt und dazu beigetragen, dass die
       Cumhuriyet-Mitarbeiter verhaftet wurden und Haftstrafen erhielten.
       
       Mit der Wahl von Coşkun musste Chefredakteur Murat Sabuncu seinen Posten
       räumen. Knapp 25 Reporter, Redakteure und Autoren trennten sich von der
       Zeitung. Über diese Entwicklungen sprachen wir mit dem 78-jährigen Aydın
       Engin, der die Zeitung während des Gerichtsprozesses gegen die Cumhuriyet
       leitete.
       
       taz gazete: Als einige Leiter und Autoren der Cumhuriyet im Gefängnis
       saßen, haben sie die Zeitung geführt. Was fühlen Sie angesichts der
       jetzigen Lage.
       
       Aydın Engin: Die Cumhuriyet veröffentlichte eine Nachricht über die
       Lastwagen des türkischen Geheimdienstes MIT, die im Mai 2015 militärisches
       Gut an Djihadisten in Syrien lieferten und von der Gendarmerie angehalten
       wurden. Seit diesem Tag sehen wir uns vor einer Regierung, die mit
       verschiedenen Mitteln versucht, die Zeitung zum Schweigen zu bringen. So
       haben sie versucht über den Rechtsweg die Wahlen der Cumhuriyet-Stiftung
       für ungültig zu erklären. Manche unserer Freunde haben sie in das Gefängnis
       gesteckt. Auch innerhalb der Zeitung gab es Menschen, die uns nicht
       wohlgesinnt waren. Manche von ihnen haben vor Gericht ausgesagt. Es macht
       mich traurig, dass diese Menschen nun die Leitung der Zeitung übernommen
       haben. Manchmal macht es mich auch wütend.
       
       Wieso konnten Sie sich mit denen, die nun die Leitung übernehmen, nicht
       verständigen? 
       
       Ein Kompromiss kam professionell und moralisch nicht in Frage. Diejenigen,
       die heute die Leitung innehaben, Alev Coşkun und seine Männer, sind
       diejenigen, die vor Gericht gegen unsere Freunde ausgesagt haben. Außerdem
       sind das Leute, die extrem nationalistisch, ultrakemalistisch eingestellt
       sind. Das heißt etwa, dass sie in der Kurdenfrage eine militärische Lösung
       bevorzugen und die Beziehungen zur EU als westlichen Imperialismus abtun.
       Heute sieht es danach aus, dass die Cumhuriyet an Kraft verloren hat – auch
       wenn sie noch nicht endgültig stillgelegt wurde.
       
       Manche bezeichnen den Leitungswechsel als „Putsch“. Finden Sie diese
       Bezeichnung angemessen? 
       
       Nein, es gab keinen Putsch oder dergleichen. Ja, die Gerichte gehören
       Erdogan, sie sind nicht unabhängig. Aber so oder so: Die Vorstandswahlen
       der Stiftung wurden wegen eines Gerichtsentscheids wiederholt. Und bei den
       Neuwahlen hat die Zahl derer überwogen, die auf einer ideologischen Linie
       zusammengekommen und gut organisiert waten.
       
       Um auf den Punkt zu kommen: Wem gehört die Cumhuriyet jetzt? 
       
       Die Cumhuriyet ist eine Zeitung die nicht nur glorreiche, sondern auch
       dunkle Zeiten hinter sich hat. Zum Beispiel gibt es die Geschichte von dem
       Foto des Dichters Nazım Hikmet, von dem manche sagen, dass es gedruckt
       wurde, damit Menschen darauf spucken können. Es gab Titelseiten auf denen
       das faschistische Italien gegrüßt wurde. Solche Auf und Abs gibt es in der
       Geschichte von Zeitungen. Die Hochs und Tiefs von Cumhuriyet fallen aber
       heftiger aus. Die Spaltung zwischen Nationalisten und Liberalen gab es in
       jeder Phase der Blattgeschichte. Als ich in den 1990ern als Textchef
       gearbeitet habe, habe ich das auch erlebt. Ilhan Selçuk, der die Zeitung
       von 1991 bis 2010 geleitet hat, war jemand, der es schaffte, ein
       Gleichgewicht zwischen beiden Lagern herzustellen. Nachdem er verstorben
       war, verhärteten sich die Fronten wieder.
       
       In einer Erklärung der neuen Leitung findet sich der Ausdruck „Die Republik
       von Atatürk“. Sich einerseits als Atatürk-Unterstützer zu definieren und
       andererseits mit Erdogan zu kooperieren, der als Bedrohung für Atatürks
       Türkei gesehen wird – ist das kein Widerspruch?
       
       Natürlich. Aber sprechen wir von den Atatürkisten der 1930er Jahre oder von
       jenen, die sich dem Westen zugewandt haben und eine moderne Türkei
       erschaffen wollen? Eigentlich wollen sie mit der Erklärung über uns sagen:
       „Das sind keine Atatürkisten, sie haben das Blatt von Atatürks Linie
       abgebracht.“ Für mich ist das ein inhaltsloser Ausdruck. Sie benutzen ihn
       nur, um uns in Verruf zu bringen.
       
       Denken Sie, Staatspräsident Erdogan ist mit der neuen Leitung der
       Cumhuriyet zufrieden? 
       
       Das ist er. Als die AKP 2002 an die Macht kam, war die Gülen-Gemeinde mit
       ihr alliiert. Viele Verbrechen haben sie gemeinsam begangen. Erdogan sagte
       selbst, dass er die sogenannten Ergenekon-Prozesse unterstütze, die von
       Gülen-Staatsanwälten wegen angeblicher Putschpläne eingeleitet wurden. Ohne
       das Erlaubnis von Erdogan wäre es nicht möglich gewesen, die Generäle zu
       verhaften. Nachdem aber der Streit zwischen Erdogan und der Gülen-Gemeinde
       eskalierte, hat die Regierung neue Verbündete gebraucht. Die Generäle, die
       im Rahmen der Ergenekon-Prozesse verhaftet wurden, wurden freigelassen und
       in Schlüsselpositionen eingesetzt. Diese Leute stehen jetzt Erdogan nahe.
       Wenn man all das zusammenfügt, kann man auch sagen, dass die neue
       Cumhuriyet-Leitung eine Perspektive mit Erdogan teilt.
       
       Wird die Cumhuriyet jetzt Leser verlieren? 
       
       Die gegenwärtige Zahl der Exemplare, die in den Kiosken verkauft werden,
       liegt bei 40.000. Ich denke nicht, dass diese Zahl sinken wird. Diejenigen,
       denen die Blattlinie und die Zeitungspolitik wichtig sind, diejenigen, die
       jetzt sagen „Wir haben die Zeitung verloren“ sind die knapp anderthalb
       Millionen Menschen, die die Cumhuriyet online lesen. Wenn es eine Abnahme
       geben sollte, dann sicherlich bei den Online-Lesern. Auch wird die
       Cumhuriyet eine jüngere Leserschaft nicht mehr ansprechen können.
       
       Gibt es Artikel, die veröffentlicht wurden als sie die Zeitung leiteten und
       die sie heute bereuen? 
       
       Klar gibt es das. Zum Beispiel bei der Präsidentschaftswahl. Da haben wir
       dem CHP-Kandidaten zu viel Aufmerksamkeit geschenkt – nur weil er gegen
       Erdogan kandidierte. Ich bin ein Journalist, der Muharrem Ince und seine
       politische Linie schon lange kennt. Es war nicht richtig, dass wir ihn
       dermaßen hochgehalten haben.
       
       Im Cumhuriyet-Prozess wurden Haftstrafen gegen Autoren und leitende
       Personen gesprochen. Auch gegen Sie. Derzeit warten Sie auf den Entscheid
       eines höheren Gerichts. Sollten die Haftstrafen vollzogen werden, wie
       titelt die Cumhuriyet dann? 
       
       Glauben Sie mir, das frage ich mich auch. Ich denke, sie werden nicht so
       tief sinken. Vermutlich werden sie so etwas sagen wie: „Die haben unsere
       Freunde eingesperrt“. Aber jener Alev Coşkun, der für die
       Staatsanwaltschaft ausgesagt hat, ist jetzt Präsident der Stiftung. Deshalb
       würde ich mich auch nicht wundern, wenn sie dann „Die Gerechtigkeit hat
       gesiegt“ titeln.
       
       Aus dem Türkischen von Volkan Ağar
       
       11 Sep 2018
       
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