# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Schweinesystem macht kurzen Prozess
       
       > Weil sie Kinder getötet haben sollen, kamen im Mittelalter Schweine vor
       > Gericht. Nicht selten endeten solche Prozesse mit Hinrichtungen.
       
 (IMG) Bild: Armes Schwein, wenn es das Pech hatte, im Mittelalter geboren zu sein
       
       Im Jahr 1408 fanden im Königreich Frankreich zwei ungewöhnliche
       Gerichtsverhandlungen statt. In Pont-de-l’Arche (Herzogtum Normandie) und
       in Saint-Mihiel (Herzogtum Bar) wurden Schweine, die man beschuldigte,
       Kinder getötet zu haben, zum Tod durch Erhängen verurteilt. Gut zwei
       Jahrzehnte zuvor war eine ebenfalls wegen Kindsmordes angeklagte Muttersau
       für schuldig befunden und als Mensch geschminkt vor den Schweinen aus der
       Gegend hingerichtet worden.
       
       Solche Prozesse scheint es vom 13. Jahrhundert bis in die Neuzeit im ganzen
       christlichen Abendland gegeben zu haben. Die meisten der bekannten Fälle
       ereigneten sich im 16. Jahrhundert. Mit der Aufklärung – als auch die
       Hexenverfolgung allmählich nachließ – hörten die Prozesse gegen Tiere bald
       auf. Da sie aber insgesamt eher selten vorkamen, galten sie in den Augen
       vieler Historiker lange als bloße Überbleibsel einer archaischen
       Rechtspraxis.
       
       Der US-amerikanische Soziologe Edward Payson Evans (1831–1917) zählte für
       die Zeit zwischen dem Mittelalter und dem 19. Jahrhundert in ganz Europa
       etwas mehr als 200 Fälle. Für das Königreich Frankreich kommt der
       französische Mediävist Michel Pastoureau auf gut 60 Tierprozesse zwischen
       1266 und 1586. Im Herzogtum Lothringen und im Herzogtum Bar sind zwischen
       dem 14. und dem 18. Jahrhundert 34 Fälle in Archiven dokumentiert, zu denen
       aber noch weitere Funde hinzukommen könnten. Von einer Mehrzahl der
       Tierprozesse weiß man ohnehin nur indirekt aufgrund von
       Buchhaltungsunterlagen und getätigten Ausgaben für Verhandlung und
       Hinrichtung. Daraus lässt sich schließen, dass die Prozesse selbst nichts
       Merkwürdiges waren, was eigens erwähnt werden musste.
       
       Noch erstaunlicher ist, dass die Verhandlungen gegen Tiere denselben
       gerichtlichen Ritualen folgten wie Prozesse gegen Menschen. Tiere wurden
       als mit Bewusstsein ausgestattete Wesen begriffen, die über einen eigenen
       Willen verfügten, für ihre Taten Verantwortung trugen und in der Lage
       waren, den Urteilsspruch zu verstehen. So wurde 1457 in Savigny (Herzogtum
       Burgund) eine Muttersau mitsamt ihren sechs Ferkeln beschuldigt, ein
       fünfjähriges Kind getötet zu haben. Der Besitzer hatte Anwälte zu seiner
       Verteidigung, die Tiere jedoch nicht. Der Mann musste zur Strafe lediglich
       die Gerichtskosten erstatten, während die Muttersau für schuldig befunden
       und zum Tod durch Erhängen verurteilt wurde. Ihre Ferkel entgingen dem
       Galgen, weil niemand ihre Mitschuld bezeugen konnte.
       
       Während der Beweisaufnahme wurden die Tiere genau wie Menschen oft in
       Vorbeugehaft genommen und zuweilen streng bewacht. 1408 in Saint-Mihiel
       erhielten beispielsweise mehrere Armbrustschützen für einen zweitägigen
       Wachdienst bei einem wegen Kindsmordes angeklagten Schweins zehn Sous
       „Trinkgeld“. In Pont-de-l’Arche dauerte die Inhaftierung 24 Tage.
       
       Die Rolle der Justiz war mit dem Urteil beendet. Die Vollstreckung oblag
       der öffentlichen Gewalt. Wie bei den Gerichtsverhandlungen gegen Menschen
       fielen die Urteile je nach Kontext sehr unterschiedlich aus: Das Verfahren
       konnte eingestellt werden, wenn das Opfer seine Verletzungen überlebte, wie
       1416 in Hennecourt (Vogesen) der Fall. Manchmal wurden die Beschuldigten
       mangels Beweisen freigesprochen (wie die Ferkel in Savigny). Umgekehrt
       konnte aber auch eine ganze Herde hingerichtet werden, wenn der Schuldige
       nicht zu ermitteln war.
       
       Das Urteil für mörderische Tiere war dasselbe wie für Menschen: Tod durch
       den Strang. Zuweilen ließ man ihre Kadaver noch eine Zeitlang demonstrativ
       am Galgen hängen, damit das in Szene gesetzte Recht seine abschreckende
       Wirkung entfaltete.
       
       ## Kindsmörderische Schweine in der Überzahl
       
       Zwar wurde gelegentlich auch Katzen und Bullen der Prozess gemacht, doch
       die kindsmörderischen Schweine waren bei Weitem in der Überzahl.
       Schließlich waren sie damals auf dem Land und in den Städten sehr
       verbreitet. Sie liefen frei durch die Straßen, über Plätze und Friedhöfe.
       Und obwohl sie sich oft als Müllabfuhr betätigten, waren sie den
       städtischen Behörden wegen der drohenden Verschmutzung der Wasserstellen
       ein Dorn im Auge. Der Herzog von Lothringen erließ deshalb 1607 eine
       Verordnung, die es den Einwohnern von Nancy untersagte, in der Stadt
       Schweine zu züchten.
       
       Außerdem stellten die Tiere eine Gefahr für kleine Kinder dar, die allein
       zu Hause blieben, während die Erwachsenen auf dem Feld arbeiteten. Aus
       spätmittelalterlichen Testamenten geht hervor, welche Sorgen sich Bauern um
       das Wohl ihrer Kinder machten, bis diese das Alter erreicht hatten, um sich
       gegen Hunde und Schweine zur Wehr zu setzen. In Frankreich, England und
       anderswo in Europa wurden die Gerichte nicht müde, den Familien
       einzuschärfen, besser auf ihren Nachwuchs und ihr Vieh aufzupassen.
       
       Neben den Strafprozessen vor weltlichen Gerichten gab es die Verfahren vor
       den geistlichen, die eine noch längere Tradition hatten. Diese ansonsten
       mit kirchlichen Angelegenheiten befassten Gerichte führten auch Prozesse
       gegen Insekten und Nagetiere, die Nutzpflanzen Schaden zugefügt hatten.
       Beim ersten bezeugten Fall (1120 in Laon) ging es um Mäuse und Raupen. Im
       Herzogtum Lothringen, das bis 1766 Teil des Heiligen Römischen Reichs war,
       gab es zwischen 1692 und 1733 vier Fälle, an denen sich das Grundmuster
       rekonstruieren lässt. Spuren solcher Prozesse finden sich bis ins 19.
       Jahrhundert hinein.
       
       Wenn ländliche Gemeinschaften bestimmte Schädlinge nicht unter Kontrolle
       bekamen, baten sie ein kirchliches Gericht um Hilfe. Dieses schickte
       Gesandte, die die beschuldigten Insekten oder Nagetiere aufforderten,
       „persönlich“ vor dem Tribunal zu erscheinen. Während der Verhandlung befahl
       der Richter einem der Angeklagten, sich mitsamt den Seinen von den
       bedrohten Feldern zurückzuziehen. Kamen die Schädlinge der Aufforderung
       nach, dankte die Gemeinde Gott mit Gebeten. Wenn die Plage fortbestand, war
       das ein Zeichen dafür, dass Gott die Menschen für ihre Sünden bestrafen
       wollte. Das Gericht ordnete dann eine Prozession mit den örtlichen
       Würdenträgern an, die mit einem Bann gegen die Schädlinge zu enden hatte.
       
       1719 traf der Bann die Heuschrecken, die es auf die Felder der Gemeinde
       Tomblaine bei Nancy abgesehen hatten, und neun Jahre später die Käfer, die
       die Weinreben im Dorf Eulmont befallen hatten. Begründet wurden diese
       Prozesse mit der Störung des gottgewollten natürlichen Gleichgewichts.
       
       Wilde Tiere finden fast nur im Zusammenhang mit Hexenprozessen Erwähnung.
       Satan nahm gemeinhin die Gestalt eines Wolfs an, den er unter seine
       Kontrolle brachte, um Vieh oder einzelne Menschen anzugreifen oder Kinder
       zu fressen. Hexen und Zauberern schrieb man dieselbe Macht zu wie ihrem
       unheilvollen Meister; auch sie konnten im Körper einer Ratte, eines Hasen,
       eines Raben oder eines streunenden Hunds erscheinen. Das einzige Tier, das
       sowohl in Hexen- als auch in Tierprozessen auftauchte, war die Katze. In
       ihrer Gestalt soll der Leibhaftige Erwachsene im Schlaf oder Kinder in
       ihrer Wiege heimgesucht haben.
       
       Um diese Rechtspraktiken zu erklären, wurden zahlreiche Vermutungen
       angestellt: In ihnen zeige sich das Fortbestehen des volkstümlichen
       Aberglaubens; durch sie habe man eine die Allgemeinheit betreffende
       Bedrohung abwenden oder den Artgenossen des hingerichteten Tiers Angst
       einflößen wollen; es handle sich um Versuche, die natürliche und soziale
       Ordnung umzukehren, ähnlich wie beim Karneval et cetera.
       
       Bislang ist noch kein Gesetzestext aufgetaucht, der die Möglichkeit
       andeutet, gegen solche Prozesse Beschwerde einzulegen. Denn diese
       Verbrechen griffen die Fundamente der Gesellschaft an: Gewalt gegen Kinder
       verletzte das Heiligste, und Schädlingsbefall auf den Äckern gefährdete die
       Gemeinden in ihrer Existenz und Stabilität.
       
       Mit dem französischen Religionsphilosophen René Girard lässt sich hier das
       Sündenbock-Motiv erkennen. Obwohl die Richter die verhandelten Verbrechen
       auch als ein Zeichen eines größeren gesellschaftlichen Problems hätten
       sehen könne, suchten sie die Ursache für das, was die Gesellschaft
       schwächte, in den jeweils beschuldigten Einzelwesen.
       
       Die Prozesse reagierten auch auf eine religiöse Verunsicherung in den
       vorindustriellen Gesellschaften. Aus ihnen spricht der Wille, die von Gott
       geschaffene Hierarchie zwischen Mensch und Tier wiederherzustellen.
       Schließlich hätte Gott den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen und ihm
       aufgetragen, „über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über
       das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere“ zu walten
       (Genesis, 1,26).
       
       Die Gerichtsverhandlungen gegen Tiere, die diese Hierarchie verletzten,
       hatten die Aufgabe, die kosmische Ordnung wieder in Kraft zu setzen. Sie
       stellten einen gesellschaftlichen Schutzmechanismus dar und waren damit
       Teil eines ideologischen Systems, das sich „aus geistigen Repräsentationen,
       aus Riten und Verhaltensweisen an der Schnittstelle zwischen dem Bewussten
       und dem Unbewussten zusammensetzte, um der Welt Bedeutung zu verleihen und
       auf sie einzuwirken“.
       
       Die Prozesse waren ein Ausdruck von Anpassung und Widerstand angesichts des
       stets engen Zusammenlebens mit Tieren aller Art. Sie halfen, das Unerhörte
       zu rationalisieren und dem Menschen die Handlungshoheit zurückzugeben.
       
       1 Sep 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Laurent Litzenburger
       
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