# taz.de -- Was geschah am Hanging Rock?
       
       > Ally Klein ist eine Debütautorin mit unnachgiebigem poetischem Stolz. In
       > ihrem ersten Roman „Carter“ beschreibt sie Figuren voller Eigensinn
       
       Von Elisabeth Wagner 
       
       Geisterstunde. Es ist Schlag zwölf, Mitternacht. Im Winter war sie in die
       Stadt gekommen, hatte lange gelesen und jetzt, da die letzte Seite
       ausgelesen war, fiel es ihr plötzlich auf. „Hinter der Scheibe, hinter dem
       dicken Glas war alles schwarz.“ Sie schnappte sich den Mantel und „stapfte
       nach draußen“.
       
       Auf dem Weg in die Altstadt hört sie die Sirenen. Der Krankenwagen ist auf
       dem Weg zu ihrer Wohnung, zu ihrem leblosen Körper, den wiederzubeleben den
       Sanitätern nicht gelingen wird. Welches „Missgeschick“, welcher „furchtbare
       Fehler“, schießt es ihr durch den Kopf. Sie hat ihren Körper „vergessen“
       und läuft, von „Scham angetrieben“, „eine Ewigkeit“ weiter. Bis zum
       „Wasser, schlundschwarz und still“.
       
       So könnte es sein, oder anders. Dieser Fluss. Er könnte der Styx, der Fluss
       der griechischen Mythologie sein, der die Welt der Lebenden vom Reich der
       Toten trennt. Oder eben der Fluss einer namenlosen Universitätsstadt, an
       dessen Ufer eine junge Frau, neu in der Stadt, in einer Nacht im März nach
       einem offenen Kiosk sucht. Beides rückt Ally Klein in ihrem Debütroman
       „Carter“ in den Bereich des Möglichen, ja Plausiblen. Ein Zwischenraum
       entsteht, der geheimnisvoll leuchtet, gleich ob man ein Geist ist oder eine
       Lebende.
       
       Die Liebe zum Beispiel kommt in jedem Fall aus dem Nichts. Das Ich steigt
       hinab in eine Bar „am alten Hafen“ und sieht zum ersten Mal Carter, diese
       Frau, die sich den Schnaps mit dem Handrücken abwischt, die ihre
       Schnürsenkel immer so bindet, dass sie sich nach kurzer Zeit wieder lösen,
       und deren Eigensinn unwiderstehlich ist. „Dunkles, wirres Haar, die Augen
       grün. Da war sie.“
       
       Es ist schon eigenartig, mit dem Roman in der Hand an den diesjährigen
       Bachmann-Wettbewerb zu denken, an Ally Kleins überforcierte Lesung und an
       die Reaktionen der Jury, die von begeistert über ratlos ja bis fast
       gelangweilt reichten. Etwas wollte sich nicht fügen, und nun kann man
       vielleicht besser verstehen, wie ernst es der Autorin damit ist, sich jeder
       Auskunft, jeder Erklärung ihres Textes zu entziehen.
       
       Sicher, man könnte vermuten, dass „Carter“ von Liebe handelt, von
       Einsamkeit und einer fast magischen Anziehung, von Tragödien, die einem
       passieren können, wenn man jung ist und noch die Ohren und Augen hat für
       halbe Gesten und knappe Sätze, an denen man alles und nichts versteht. Es
       geht um Begegnungen auf Leben und Tod. Sagen wir, um eine Frau, deren
       Wahrnehmungen von solcher Kraft und Schärfe sind, dass die Außenwelt
       darüber unlesbar wird.
       
       Sie sehe aus wie 16, sagen die Leute diesem Ich. Wie es denn sein könne,
       dass sie fast ein ganzes Medizinstudium hinter sich gebracht und doch
       abgebrochen habe. Eine Antwort bleibt aus, höchstens kann man vermuten,
       dass dieses mimetisch begabte und sich bis in den Wahrnehmungskrampf
       hineinsteigernde Ich über den Körper nicht in der Sprache der Diagnose
       verhandeln kann.
       
       Zwischen Bier und Zigaretten, zwischen schwitzenden Tänzern, im Keller der
       Bar und auf dem Dach des alten Casinos zählt jeder Blick. Wie Risse laufen
       sie durch diesen mit äußerster Präzision formulierten und in keiner Zeile
       um den Leser buhlenden Text. Das Ich könnte jederzeit darin verschwinden.
       Suchen, vermuten, sich einen Moment lang fast sicher sein und wieder
       unsicher werden. Die Lektüre beschreibt eine Kreisbewegung, und dazu passt,
       dass der letzte Satz des Romans direkt zurück an den Anfang führt.
       
       Auch eine bewundernde Bemerkung scheint von Belang, die das Ich gegenüber
       der von ihm „anfangslos“ geliebten Carter macht, Sie betrifft Joan Lindsays
       Roman „Picnic at Hanging Rock“, den zur Freude der Erzählerin auch Carter
       kennt.
       
       Was geschah mit den Mädchen am Hanging Rock? In einem Interview von 1974
       hat sich Joan Lindsay anlässlich der Verfilmung ihres Buches jeder
       abschließenden Interpretation verweigert und davon gesprochen, dass sie die
       Armbanduhren ihres Sitznachbarn häufig durch bloße Anwesenheit zum Stehen
       bringe. Mit dem unnachgiebigen poetischen Stolz Ally Kleins könnte es sich
       ähnlich verhalten. Immerhin zeigen auch für „Carter“ die Zeiger der
       Deutungsuhren auf Geheimnis. „Vielleicht geht’s ja genau darum, dich nicht
       zu begreifen“, heißt es bei Ally Klein.
       
       25 Aug 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Elisabeth Wagner
       
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