# taz.de -- Maschinen lesen besser
       
       > Der Autor Hannes Bajohr benutzt digitalisierte Text-Korpora von Kafka,
       > den Brüdern Grimm oder auch von Managementfibeln und arrangiert sie um.
       > Das ist oft lustig und manchmal sehr erhellend. „Halbzeug“ heißt sein
       > neues Buch
       
 (IMG) Bild: Verfahren zur Verarbeitung von Daten durch Lochkarten nach dem System von Herman Hollerith
       
       Von Hans Hütt
       
       Maschinen können nach bestimmten Regeln lesen, sehen und hören. Sie
       konvertieren Texte, Bilder und Töne in einen Strom von Nullen und Einsen.
       Die technische Voraussetzung dafür ist die automatisierte Erkennung von
       Zeichen. Das nutzt der Autor Hannes Bajohr in seinem Buch „Halbzeug:
       Textverarbeitung“, in dem er überlieferte literarische Texte und
       Alltagstexte in eine neue Form bringt.
       
       Das Centre Pompidou in Paris zeigt noch bis zum 27. August die großartige
       Ausstellung „Coder le monde“, in der, angefangen bei den Sumerern und ihren
       Rechenhelfern bis hin zu modernen Technologien der Stadtplanung, gezeigt
       wird, wie das Kodieren im kleinen und im großen Maßstab funktioniert. Die
       alten Griechen fanden dafür das Wort „Poiesis“, wörtlich übersetzt heißt
       das Hervorbringung.
       
       Nun sehen wir uns mit Bajohrs „Halbzeug“ an, wie aus bestehenden
       literarischen Werken mithilfe von Maschinen Neues hervorgebracht werden
       kann. Für seine Arbeit benutzt Bajohr digitalisierte literarische Werke,
       Zeitungen, Zeitschriften und anderes Schrifttum. Solche Text-Korpora
       ermöglichen die maschinelle Durchsuchung riesiger Textmengen mit dem Ziel,
       einzelnen Wörtern, Kontexten oder auch Häufigkeiten nachzugehen.
       
       Zum Beispiel gelingt es herauszufinden, in welchen Kontexten Franz Kafka in
       seinem Werk (ohne die Tagebücher) das Wort „Opfer“ verwendet. Die
       Fundstellen arrangiert Bajohr manuell, entfernt rechts und links das eine
       oder andere Wort. Die senkrechte Achse dieses lyrischen orthodoxen Kreuzes
       bildet das Wort „Opfer“, und so entsteht aus dem Riesenwerk Kafkas nach
       Maßgabe eines einzigen Wortes ein Gedicht, in dem der Kontext des Wortes in
       Kafkas Werk eine intime Aussage des Autors Hannes Bajohr über die Figur des
       Opfers ermöglicht.
       
       Eine zweite Operation sortiert alle Fundstellen von vier Wörtern, die in
       den Grimm’schen Märchen öfter als acht Mal auftauchen: Heraus kommt der
       Text „Es trug sich zu“, er beginnt mit „es war einmal ein“ (wer hört nicht
       sogleich den Grimm-Sound?) und endet mit „wenns mir nur gruselte“, als habe
       das sortierende Aufräumen ein Betriebsgeheimnis der Märchen und ihrer
       Sammler aufgespürt.
       
       Wunderbar komisch ist „Was man muss“, ein Arrangement, das maximal 140
       Zeichen lange Sätze aus Managementfibeln, die mit „Sie müssen“ anfangen,
       nach aufsteigender Länge sortiert. Patentrezepte erfolgreichen Managements
       wirken plötzlich fadenscheinig. Im Wendekorpus versammelt Bajohr sechs
       Wörter lange Sätze aus den Jahren der Wende 1989/90 und fabriziert damit
       ein konkretes Gedicht aus der Prosa der politischen Zeitgeschichte.
       
       Es bringt Spaß, so durch dieses Buch zu gehen. „Der Winter der Jahre“
       sammelt aus deutschen und österreichischen Klimaschutzberichten
       Genitivkonstruktionen. Gäbe es eine Poetologie für die Bekundung
       gelehrtester Ohnmacht, in diesem Gedicht wäre sie zu finden. Das erste
       Kapitel beschließt eine Sammlung von Sätzen, die mit „Ich bin“ beginnen und
       die Hannes Bajohr und Gregor Weichbrodt aus 7.000 Profilen männlicher
       heterosexueller Nutzer der Online-Dating-Plattform Parship gesammelt und
       weiterverarbeitet haben. So sieht postheroisches Begehren von Liebhabern im
       Wartestand aus. Es kitzelt die Komik.
       
       Das zweite Kapitel, „Automatengedichte“ überschrieben, ließe sich als
       Bio-Poiesis verstehen. In ihm bedient sich Bajohr unterschiedlicher
       Textsorten und bringt sie durch Zufallsoperationen zum Schwingen.
       Biologisch könnte man das als Kreuzung bezeichnen. In diesen Gedichten
       kommt Bajohr der surrealistischen Praxis am nächsten. Noch kitzelt darin
       die Maschine nur an den Oberflächen der gekreuzten Texte, macht damit aber
       zugleich die Frage nach dem Sinn wieder stark. Gibt es etwas Mächtigeres
       als poetisch-automatisch aktivierten Unsinn, um das, was heute als Sinn
       gilt, auf die Probe zu stellen?
       
       Das dritte Kapitel, „Maschinensprache“, vollzieht einen Formatwandel. Texte
       werden zu Bildern und Bilder zu Tönen. Bajohr verwandelt sein Halbzeug in
       synästhetische Konstrukte. Diese Texte seien, schreibt er, durch die Augen
       und Ohren der Maschine gegangen. Man könnte auch sagen, er habe die
       Maschine mit ihren eigenen Tricks überlistet. Missverstehen wird produktiv.
       
       Das vierte Kapitel schließlich, „in den reader für das eleventum“, benutzt
       die Synonym-Suche von Microsoft-Word dazu, berühmte Gedichte der
       Nachkriegszeit umzuschreiben. Der hohe Ton wird dunkel, flach, auch hell.
       Eine heiterere Idee für das Erraten von Gedichten oder lustige Rachsucht an
       schwermütig machendem Deutschunterricht ist kaum vorstellbar.
       
       Hannes Bajohrs Arbeit steht in einer ehrwürdigen Tradition. Sie reicht
       zurück bis in die antiken Mythen und ihr Spiel mit der Doppeldeutigkeit.
       Odysseus sagt dem Riesen Polyphem, er heiße oudeis, das heißt „niemand“.
       Wer „niemand“ heißt, kann auch nicht ermordet werden. Im engeren Sinn sind
       Bajohrs Vorläufer der kanadische Autor Jean A. Baudot und der italienische
       Dichter Nanni Balestrini, in jüngerer Zeit vor allem der US-amerikanische
       Autor Kenneth Goldsmith, der sich als „Erfinder unkreativen Schreibens“
       bezeichnet.
       
       In der zeitgenössischen Literaturgeschichte markieren das Buch und die
       Arbeit Bajohrs eine neue Etappe in der literarischen Arbeit und ihrer
       Interpretation. Pathetisch gesprochen, liefert „Halbzeug“ ein
       Freiheitsdokument in der Tradition des Habeas-Corpus-Akts von 1679. In der
       Rechtsgeschichte war Habeas Corpus ein Meilenstein für persönliche
       Freiheitsrechte. Man konnte nicht mehr ohne richterliche Prüfung
       willkürlich hinter Gitter gebracht werden.
       
       Für die Literatur und ihre Erforschung bringt die Arbeit mit digitalen
       Korpora (das ist der Plural) den Vorteil mit sich, riesige Textmengen mit
       neuen Methoden zu analysieren und zu bearbeiten. Habest du nun den
       digitalen Korpus, kannst du nach selbst gesetzten Regeln damit arbeiten und
       spielen. Der überlieferte Sinn literarischer Werke wird spielerisch auf die
       Probe gestellt.
       
       Die Maschinenlesbarkeit von Texten, Bildern und Tönen wird so zu einer
       Grundlage der Freiheit. Sie animiert zu Formatverwandlungen, in der antiken
       Poetologie stehen Ovids Metamorphosen Pate. Das Verwandeln der Textkörper
       in neue Formate stellt den Sinn auf die Probe, findet in den großen Werken
       Spuren für ihre Reinterpretation.
       
       Durch diese Praxis verwandeln sich auch Großwerke der Literaturgeschichte
       erneut in rohes Halbzeug, werden zum Ausgangspunkt eines neuen
       Arrangements. Das kann man, wie der Kritiker Michael Braun, respektlos
       finden. Mit dieser Kritik schlägt er sich auf die Seite der Gestrigen und
       verbannt die Praxis literaturwissenschaftlicher Forschung ins poetologische
       Abseits. Braun schlägt dem Homo ludens Johan Huizingas das neueste
       Spielzeug aus der Hand. Das ist unfreiwillig albern. Mit solchen Reaktionen
       hätte vor hundert Jahren auch die Begegnung von Nähmaschinen und
       Regenschirmen auf Seziertischen, also die Geburt des Surrealismus, für
       unziemlich erklärt werden können.
       
       Bajohr macht uns mit synästhetischen Abenteuern vertraut und weckt die
       Lust, die Techniken selber an anderen Gegenständen auszuprobieren. Das ist
       mehr als bloß Ersatz. Bajohr hat über Hans Blumenbergs Sprachphilosophie
       promoviert. Mit „Halbzeug“ macht er Angebote, die der Sprache neue
       Ausdrucksmöglichkeiten erschließen, eine zarte und zugleich skeptische
       sprachliche Selbstermächtigung.
       
       Hannes Bajohr: „Halbzeug: Textverarbeitung“. Suhrkamp, Berlin 2018, 107
       Seiten, 16 Euro
       
       20 Aug 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hans Hütt
       
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