# taz.de -- Kirche ohne Dorf: Das letzte Stückchen Altenwerder
       
       > Als der Hamburger Hafen den Stadtteil Altenwerder schluckte, blieb nur
       > die Kirche stehen. Jetzt stellt der Friedhof gleich nebenan den Betrieb
       > ein.
       
 (IMG) Bild: Das Ende naht: Blick über den Friedhof auf die St. Gertrud-Kirche in Hamburg-Altenwerder.
       
       Hamburg taz | Ein weißer VW-Bus hält wenige Meter entfernt, auf der Brücke
       am Altenwerder Hauptdeich. „Wollen Sie in die Kirche?“, fragt die
       grauhaarige Frau am Steuer. Sie lächelt freundlich. „Ich kann sie
       mitnehmen!“ Fußgänger gehören hier, so scheint es, nicht zum normalen
       Straßenbild. „Jeder der hier jetzt lang kommt, möchte zur Kirche“, erzählt
       sie. „Alle, die hinter uns fahren, möchten zur Kirche.“
       
       Es ist Sonntagmorgen, kurz nach neun Uhr. Normalerweise brettern hier
       tonnenschwere LKWs die Straße entlang, sie wollen zur
       Müllverbrennungsanlage oder zum Aluminiumwerk. Oder sie kommen von der A7
       oder dem Containerterminal Altenwerder. Sonntags jedoch ruht das
       geschäftige Treiben, beinahe jedenfalls. [1][Was heute Gewerbegebiet ist,
       war früher mal ein Dorf], in dem zeitweise knapp 2.500 Menschen wohnten.
       Dann besiegelte das Hafenerweiterungsgesetz Anfang der Sechzigerjahre das
       Schicksal Altenwerders. Die Bewohner*innen wurden umgesiedelt, 1998
       verließen die letzten das frühere Fischerdorf. Davon blieb einzig die
       St.-Gertrud-Kirche.
       
       Dörte Gudat, die Frau am Steuer des VW-Busses, kommt jeden zweiten Sonntag
       hierher: Immer dann ist Gottesdienst. Sie hat früher in Altenwerder gelebt,
       in der St.-Gertrud-Kirche geheiratet. „Normalerweise sammele ich viele
       Leute aus den umliegenden Stadtteilen ein und nehme sie mit hierher“,
       erzählt sie. Viele hätten sonst keine Möglichkeit, den Gottesdienst zu
       besuchen. Doch heute muss sie gleich danach weiter, ihren Mann besuchen, im
       Krankenhaus. „Deshalb fahre ich heute ausnahmsweise alleine.“
       
       ## „Bäume der Hoffnung“
       
       Inmitten von Gewerbehallen und Windkraftanlagen wirkt die Kirche fast
       surreal. An den Parkplatz grenzt eine kleine Wiese mit Apfelbäumen.
       „Brautpaare, die in Altenwerder heiraten, pflanzen hier Bäume der
       Hoffnung“, steht auf einem Schild. Im Hintergrund überragen die Kühlhallen
       eines großen Logistikunternehmens das kleine Feld.
       
       Anneliese Schauberg steht am Kircheneingang. Sie ist die erste Vorsitzende
       des [2][Vereins zur Förderung und Erhaltung der St.-Gertrud-Kirche]. Sie
       begrüßt jede Besucherin und jeden Besucher mit Namen, verteilt die
       Gesangsbücher. Als pünktlich um fünf vor halb zehn die Kirchenglocken
       läuten, haben etwa 25 Menschen auf den Kirchenbänken Platz genommen. Sie
       plaudern, lachen. Man kennt sich.
       
       Etwa 45 Minuten dauert der Gottesdienst. Danach verlässt niemand sofort die
       Kirche. Es wird noch kurz geplaudert, Klönschnack auf Plattdeutsch. Die
       meisten bleiben auch noch für Kaffee und Kuchen: Hinter den letzten Bänken
       ist eine lange Tafel aufgebaut. Kaffeetassen und Kuchenteller stehen schon
       bereit. Nach einer kurzen Führung in den Turm der Kirche verabschiedet sich
       Dörte Gudat. Sie fährt zu ihrem Mann.
       
       „Diese Kirche lebt wirklich“, erzählt Anneliese Schauberg, während sie
       ihren Kaffee trinkt. Unter Touristen ist das denkmalgeschützte Gebäude ein
       beliebter Anlaufpunkt. Neben den zweiwöchentlichen Gottesdiensten finden
       hier immer noch Konzerte, Hochzeiten und Taufen statt. „An Weihnachten ist
       es hier so voll wie an einem Wallfahrtsort“, sagt sie „Die Kirche ist immer
       noch Kirche geblieben“, ergänzt Klaus Lippmann, Kassenwart des
       Fördervereins. „Trotz der Geschichte und des ganzen Tourismus, hier wird
       noch der Glaube gelebt.“
       
       ## Stolze Ehemalige
       
       Die ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohner von Altenwerder sind stolz auf
       ihre Kirche. Mit jedem Satz wird deutlich, wie sehr sie ihnen am Herzen
       liegt. Altenwerder ist ihre Heimat und die St.-Gertrud-Kirche das einzige,
       was davon geblieben ist. Lange war unklar, wie es mit der Kirche
       weitergeht. Die Verhandlungen mit der Hamburger Hafenbehörde, der Hamburg
       Port Authority (HPA), über einen neuen Mietvertrag und die laufenden Kosten
       zogen sich hin. Seit Anfang des Jahres ist die Zukunft von St. Gertrud
       gesichert – wenigstens für die nächsten fünf Jahre.
       
       Früher wurden solche Verträge über zehn Jahre geschlossen. Doch wirklich
       beschweren wollen sich die ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohner von
       Altenwerder nicht. Die finanzielle Lage sei heute besser als früher. „Unser
       Problem ist vielmehr die Frage: Wer macht das hier weiter?“, erzählt
       Anneliese Schauberg. Es fehle an ehrenamtlichem Nachwuchs.
       
       Klar ist seit Kurzem noch etwas: Mit dem Friedhof wird es nicht
       weitergehen. Zum 1. September wird er für Beisetzungen geschlossen, so hat
       es der Hamburger Senat beschlossen. Es gebe schlicht keinen Bedarf an
       Beisetzungen mehr, so die Begründung.
       
       „Aus Unwissenheit darüber, was mit Altenwerder passiert, haben viele
       Familien die Gräber ihrer Angehörigen umgebettet“, erzählt Anneliese
       Schauberg. Bilder an den Wänden der Kirche zeigen, dass damals, als das
       Hafenerweiterungsgesetz beschlossen wurde, der Friedhof in Altenwerder fast
       vollständig belegt war. Dann mussten die Menschen ihre Häuser verlassen und
       einige nahmen ihre toten Angehörigen mit in ihren neuen Wohnort. Doch
       einige Gräber blieben auch.
       
       ## Unruhige letzte Ruhe
       
       Heute ist der Friedhof der St.-Gertrud-Kirche sehr gepflegt, im
       Sonnenschein wirkt er fast idyllisch. Einige der Grabsteine wurden
       hingelegt, zur Sicherheit, damit sie nicht umkippen. Andere stehen immer
       noch aufrecht da, wie der von Familie Lippmann: Klaus Lippmanns Eltern,
       Großeltern, Onkel, Tanten und Geschwister – alle liegen noch in Altenwerder
       begraben. Zurzeit pflegt er acht Grabstellen. Doch für seine eigene
       Beisetzung wird er sich einen anderen Ort suchen müssen. Auch Anneliese
       Schaubergs Großeltern und Urgroßeltern sind hier begraben. Sie selbst
       möchte in ihrer neuen Gemeinde ihre letzte Ruhe finden. „Ich möchte nicht“,
       sagt sie, „zwischen Autobahn und Containerterminal beerdigt werden.“
       
       Anders geht es einer ergrauten Frau, die in der Mitte der Kaffeetafel Platz
       genommen hat. Sie sei Mitte 80, erzählt Anneliese Schauberg über die Frau.
       Ihr Mann liege hier in Altenwerder begraben und der sehnlichste Wunsch der
       Frau sei, neben ihm beerdigt zu werden. Das scheint nun nicht mehr möglich.
       Unverständlich und traurig für die Menschen an diesem Morgen in der Kirche.
       Man hätte doch so etwas wie eine Ausnahme in den Gesetzestext mit aufnehmen
       können. Schließlich sei die alte Dame vermutlich die letzte ehemalige
       Einwohnerin, die sich hier begraben lassen möchte.
       
       Die Schließung des Friedhofs ist ein heikles Thema. Glücklich sind die
       Ehemaligen von Altenwerder darüber nicht, aber so ganz überraschend kam die
       Entscheidung auch nicht. Sie scheinen sich nicht beschweren zu wollen – und
       die gute Zusammenarbeit mit der HPA nicht gefährden. Doch für die
       freundlich lächelnde Witwe wollen sie sich dann doch einsetzen, so ist zu
       erfahren, damit sie neben ihrem Mann ihre letzte Ruhe finden kann. Wie
       genau das funktionieren soll, das wissen die Menschen an der Kaffeetafel
       gerade noch nicht.
       
       Kurz vor Mittag brechen die meisten auf, treten die Reise an ihr neues Heim
       an. Auch auf dem Rückweg muss niemand zu Fuß gehen: „Kann ich Sie“, fragt
       nun Klaus Lippmann, „irgendwohin mitnehmen?“
       
       Mehr vom verschwundenen Fischerdorf – und seinem kämpferischen letzten
       Fischer: Den ganzen Schwerpunkt „Die letzte Schlacht verloren“ lesen Sie in
       der gedruckten taz nord.am wochenende oder [3][hier].
       
       11 Aug 2018
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Marthe Ruddat
       
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