# taz.de -- Debatte Brexit: Charme der zweiten Wahl
       
       > Es sollte ein zweites Referendum über den EU-Austritt geben. Aber mit
       > einem neuen Verfahren, bei dem die Abstimmenden Noten verteilen.
       
 (IMG) Bild: Ein zweites Brexit-Referendum dürfte keine simple Ja/Nein-Frage sein
       
       Eine aktuelle Umfrage in Großbritannien zeigt: Zum ersten Mal unterstützt
       eine relative Mehrheit der Briten ein zweites Referendum zum EU-Austritt.
       Die Zahlen sind zwar noch nicht berauschend, die das renommierte
       YouGov-Institut erhoben hat: 42 Prozent wollen eine zweite Abstimmung, 40
       Prozent sind dagegen, und der Rest ist unentschieden. Aber diese Umfrage
       zeigt doch, dass die Heilsversprechen der „Leave“-Kampagne an Glanz
       verlieren [1][und eine realistischere Skepsis einkehrt].
       
       Gleichzeitig könnte es schlimmer kommen als gedacht: Es ist gut möglich,
       dass die Austrittsverhandlungen wegen der Schwäche der Regierung May zu gar
       keinem Ergebnis führen, man also in einen „harten“ Brexit hineinstolpert
       und das Vereinigte Königreich für die EU zu einem beliebigen Drittland
       wird. Die regierende Tory-Partei ist so zerstritten, dass dieser Extremfall
       sogar zunehmend wahrscheinlich wird.
       
       Diese interne politische Blockade war nicht vorhersehbar, als [2][das erste
       Brexit-Referendum im Juni 2016] abgehalten wurde. Deshalb sollte den
       BürgerInnen jetzt durch eine zweite Abstimmung die Letztentscheidung
       überlassen werden.
       
       Angesichts der Komplexität der Frage wäre es angemessen, in einem zweiten
       Referendum nicht zwei, sondern drei Optionen anzubieten. Die Erste wäre
       „Remain“, also der Verbleib in der EU mit allen Rechten und Pflichten.
       Brüssel hat London einen solchen Rücktritt vom Austritt mehrfach angeboten.
       Eine zweite Option wäre der harte Brexit, einschließlich einer dann
       notwendig streng kontrollierten inner-irischen Grenze. Und die dritte
       Variante wäre ein Kompromiss, auf den sich das Vereinigte Königreich und
       die EU einigen konnten. Sollte keine Einigung zustande kommen, weil die
       Querelen in Westminster nicht enden, könnte in dem Referendum nach einer
       EWR-Lösung wie in Norwegen gefragt werden.
       
       Welches Verfahren wäre angemessen? 
       
       Norwegen ist ein Fall, der der Lage in Großbritannien nicht unähnlich ist.
       In zwei Volksabstimmungen haben die Norweger einen EU-Beitritt jeweils
       knapp abgelehnt. Stattdessen wurde das Land via Mitgliedschaft im
       Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) in den Binnenmarkt integriert, so wie
       auch Island und Liechtenstein und mit Abstrichen die Schweiz. Wie in der EU
       gelten also auch in Norwegen die Grundfreiheiten für Waren,
       Dienstleistungen, Kapital und Personen; Norwegen muss zudem Beiträge zahlen
       und EU-Regelungen übernehmen. Ausgeschlossen sind aber andere wichtige
       Bereiche wie Landwirtschaft und Fischerei.
       
       Wenn über drei Optionen abgestimmt werden soll, ist zunächst zu klären,
       welches Verfahren angemessen wäre. Trotz der weitreichenden Beliebtheit bei
       grünen und sozialdemokratischen Urwahlen wäre es das Dümmste, eine relative
       Mehrheit bereits als ausreichend anzusehen. Wenn bei einem zweiten
       Brexit-Referendum beispielsweise Werte von 34, 33 und 33 Prozent
       herauskämen, dann könnte keine Position glaubhaft behaupten, eine wirkliche
       Mehrheit zu repräsentieren.
       
       Die zweitschlechteste Lösung wäre, ein zweistufiges Verfahren anzusetzen,
       wo die beiden erstplatzierten Vorschläge in einer Folgerunde gegeneinander
       antreten. Diese Variante wird zwar in der Praxis oft angewandt, etwa bei
       französischen Parlamentswahlen, aber auch hier werden die Zweitpräferenzen
       negiert. Doch gerade die zweite Priorität der Befragten könnte oft eine
       klare Mehrheit ermöglichen.
       
       Diese Konstellation ist nicht ungewöhnlich. Bei einem zweiten
       Brexit-Referendum wäre durchaus denkbar, dass „Verbleib“ und „harter
       Brexit“ die beiden meistgenannten Optionen sind, beide aber die
       50-Prozent-Hürde deutlich verfehlen. Zugleich könnten die
       Harter-Austritt-Befürworter, wenn sie für ihre eigene Position keine
       Mehrheit sehen, vielleicht mit der norwegischen Lösung leben, da man ja
       immerhin kein EU-Mitglied mehr wäre. Umgekehrt würde wohl auch die
       „Remain“-Fraktion gern wenigstens einen Fuß im Binnenmarkt behalten wollen.
       Eine Stichwahl würde aber diesen eventuell mehrheitsfähigen Kompromiss
       durch Nichtzulassung ignorieren.
       
       Abstimmen mit Schulnoten 
       
       Die Wissenschaft hat eine Reihe von Verfahren entwickelt, wie der
       eigentliche Mehrheitswille besser abgebildet werden kann: Gemeinsam ist
       allen Konzepten, dass auch die Folgepräferenzen der Abstimmenden
       berücksichtigt werden. Besonders ein Vorschlag ist sehr passend, um die
       drei Referendum-Optionen mit hoher Legitimität zu entscheiden: Jede der
       drei Varianten würde wie mit einer Schulnote bewertet; die Abstimmenden
       müssten also zwischen „Sehr gut“, „Gut“ und „Noch akzeptabel“ wählen. Wenn
       Bürger eine Option gänzlich ablehnen, würde sie gar nicht bewertet – und
       wäre damit durchgefallen.
       
       Bei der Auszählung werden zunächst nur die Erstpräferenzen, also die „Sehr
       guts“ betrachtet. Gibt es hier eine absolute Mehrheit, ist das Verfahren
       bereits beendet und ein Sieger gefunden. Gibt es sogar mehrere absolute
       Mehrheiten, was theoretisch möglich wäre, gewinnt die Option mit den
       meisten Nennungen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass noch eine zweite
       Runde ausgezählt werden muss. Dann lautet die Frage: Wie viele Stimmen hat
       jede Option, wenn die Noten „Sehr gut“ und „Gut“ zusammengezählt werden?
       Sollte es auch hierbei noch keine absolute Mehrheit geben, muss eine
       dritte Runde ausgezählt werden, die dann auch die Note „Noch akzeptabel“
       berücksichtigt.
       
       Gesetzlich benötigt ein zweites Brexit-Referendum nur einen einfachen
       Parlamentsbeschluss. Wie die Abstimmung ausgehen würde, ist natürlich
       offen. Aber YouGov hat Ende Juli auch gefragt, wie man, wenn es denn zu
       einem Referendum käme, sich entscheiden würde. 45 Prozent der Befragten
       würden für einen „Verbleib“ stimmen, 42 Prozent für einen „Austritt“. Das
       lässt doch hoffen, dass sich demokratische Prozesse auch selbstkritisch
       gestalten lassen und Fehlerkorrekturen möglich sind.
       
       3 Aug 2018
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Viele-Briten-wollen-neues-Brexit-Votum/!5515321
 (DIR) [2] /Zum-Nachlesen-der-taz-Brexit-Ticker/!5314662
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gerd Grözinger
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Brexit
 (DIR) Referendum
 (DIR) Großbritannien
 (DIR) Lesestück Meinung und Analyse
 (DIR) Schwerpunkt Brexit
 (DIR) Schwerpunkt Brexit
 (DIR) Schwerpunkt Brexit
 (DIR) Großbritannien
 (DIR) Schwerpunkt Brexit
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Brexit-Kampagne „Leave Means Leave“: Die Brexiteers machen mobil
       
       Beim EU-Gipfel in Salzburg kam es zum Eklat. Das bildet die perfekte
       Steilvorlage für eine neue britische EU-Austrittskampagne.
       
 (DIR) Gespräche ohne Einigung: Brexit-Poker im Panikmodus
       
       Die EU-Austrittsverhandlungen mit Großbritannien kommen nicht voran. Schon
       Ende März 2019 droht ein „harter Brexit“ – ohne Absicherung.
       
 (DIR) Britischer EU-Austritt: Bitteres Endspiel um den Brexit
       
       Die Schlussphase der Verhandlungen beginnt – es ist keine Annäherung
       zwischen London und Brüssel in Sicht. Beide Seiten graben sich ein.
       
 (DIR) Großbritanniens Austritt aus der EU: Wie tot ist Mays Brexit-Plan?
       
       Die britische Premierministerin geht auf ihre Gegner ein und vermeidet
       damit Niederlagen im Parlament. Doch ihre Autorität nimmt ab.
       
 (DIR) Essay Brexit: All mouth, no trousers
       
       Die Brexit-Fanatiker ignorieren, dass Europa inzwischen zu Großbritannien
       gehört. Weil die Politik versagt, regt sich Widerstand gegen sie in der
       Gesellschaft.