# taz.de -- Der investigative Politiker
       
       > Ahmet Şık ist einer der prominentesten Journalisten der Türkei. Ihm
       > drohen mehr als sieben Jahre Haft. Nun sitzt er für die HDP im Parlament
       > – und bereitet sich auf die Arbeit vor wie für die nächste große
       > Enthüllung
       
 (IMG) Bild: In seinem Wahlkampfbüro in Istanbul verfolgt Ahmet Şık die Ergebnisse der türkischen Parlamentswahl am 24. Juni 2018
       
       Aus Ankara İrfan Aktan
       
       Ahmet Şıksitzt in einem Café am Şili-Platz, etwas oberhalb des Geländes des
       türkischen Parlaments in Ankara. Immer wieder wird er von Cafébesuchern
       erkannt, und wir werden im Gespräch unterbrochen. Ein Mann kommt an den
       Tisch, er stellt sich als Professor vor, der per Notstandsdekret entlassen
       wurde. Der Professor lächelt und fragt Şık: „Und, was wollen Sie für uns
       tun?“ Şık reagiert mit einer Gegenfrage: „Wir werden etwas tun, nur was,
       ja, was meinen Sie denn, was wir unter so einem Regime tun können?“ Während
       Şık erzählt, wie begrenzt seine Möglichkeiten als Abgeordneter sind, raucht
       er eine Zigarette nach der anderen. Er holt tief Luft und stellt sich
       selbst auch immer wieder diese Frage: „Was sollen wir denn machen? Wie
       sollen wir ein Parlament ausfüllen, das sie ausgehöhlt haben?“
       
       Ahmet Şık, einer der prominentesten Investigativjournalisten der Türkei und
       Symbolfigur für die Repressionen gegen Journalisten, ist in die Politik
       gegangen. Bei den Wahlen am 24. Juni wurde er als Abgeordneter von Istanbul
       für die kurdisch-linke HDP ins Parlament gewählt. Vor ihm liegt keine
       leichte Aufgabe: Er zieht in ein Parlament ein, das im Präsidialsystem alla
       turca seiner Funktion beraubt wurde. Angesichts dessen fragen sich die
       Abgeordneten der Opposition besorgt, wie sie überhaupt noch wirksame
       Politik machen sollen. Auf Şık liegen nun die Hoffnungen derer, die nicht
       die AKP gewählt haben. „Auch im Parlament werde ich die Dinge beim Namen
       nennen“, sagt er mir und schiebt schnell hinterher, es sei ihm aber
       bewusst, dass im neuen System ein Abgeordneter im Parlament nicht viel mehr
       tun kann, als „Krach“ zu schlagen.
       
       Şık hat in der Nähe des Parlaments in Ankara eine Wohnung angemietet. Seine
       Frau, seine Tochter, die Jura studiert, und sein Hund Pablo bleiben in
       Istanbul zurück. Seinen Arbeitsschwerpunkt sieht er trotzdem in den
       Armenvierteln seines Wahlbezirks in Istanbul, dort will er Anlaufstellen
       einrichten, in denen die Bürger ihre Probleme vorbringen können. „Wir
       müssen Politik auf der Straße machen, konkrete Lösungen entwickeln und
       dabei die Armen, die für die AKP gestimmt haben, miteinbeziehen“, sagt er.
       Wird das funktionieren? „Das ist schwierig, aber nicht unmöglich.“
       
       Das Parlament nimmt zwar erst im Oktober wieder offiziell die Arbeit auf,
       Şık wühlt sich aber jetzt schon durch zahllose Formulare. Von überall her
       erreichen ihn Mails, Beschwerden, Informationen. „Ich notiere sie alle. Ich
       werde ins Parlament tragen, worüber die Journalisten nicht berichten
       können.“ Şık ist davon überzeugt, dass effektiver Widerstand gegen das
       Regime nur mit Medien möglich ist, die über die Fakten berichten. Deshalb
       will er als Abgeordneter Projekte unterstützen, die unabhängige Medien
       stärken. Als regierungskritischer Journalist hat er erfahren, welchen Preis
       es in der Türkei kostet, Fragen zu stellen.
       
       ## Unbequem, prinzipientreu
       
       Ahmet Şıks Geschichte ist eine sämtlicher Hindernisse, die dem unabhängigen
       Journalismus in der Türkei im Wege stehen. Schon in den ersten Jahren
       seiner Karriere erlebte er in seinem nächsten Umkreis, wie gefährlich es
       ist, in der Türkei Journalist zu sein: Sein enger Freund, der
       Evrensel-Journalist Metin Göktepe, wurde im Januar 1996 nach der Teilnahme
       an einer Beerdigung zweier in der Haft getöteter Gefangener von Polizisten
       so brutal zusammengeschlagen, dass er noch am selben Tag an seinen
       Verletzungen starb. Şıks Kampf für die Pressefreiheit begann als
       Organisator von Protesten, bei denen er forderte, die Mörder seines
       Freundes zur Rechenschaft zu ziehen.
       
       Unter früheren Kollegen gilt Şık als unbequem, als einer, der es zu seinem
       Prinzip erhoben hat, sich Ungerechtigkeiten zu widersetzen. International
       bekannt wurde der Journalist durch sein Buch „Die Armee des Imam“ von 2010,
       in dem er schildert, wie sich die Gülen-Bewegung, damals noch enger
       Bündnispartner der AKP, in den staatlichen Strukturen organisiert. Es wurde
       beschlagnahmt, noch bevor es ganz fertig war. Der türkische Präsident Recep
       Tayyip Erdoğan sagte über das unveröffentlichte Buch, es sei „gefährlicher
       als eine Bombe“. Sein Autor musste 2011 dafür ins Gefängnis. Ende 2013,
       kurz nachdem Şık aus der Untersuchungshaft entlassen worden war, kam es zum
       Bruch zwischen AKP und Gülen-Bewegung. Die Staatsanwälte, die Şık damals
       ins Gefängnis geworfen hatten, kamen nun selbst hinter Gitter.
       
       Der Machtkampf zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung kulminierte im
       Putschversuch am 15. Juli 2016. Fünf Tage später rief die türkische
       Regierung den Ausnahmezustand aus, der erst kürzlich aufgehoben wurde. In
       diesem Zeitraum verloren mehr als 150.000 Menschen ihren Job, rund 75.000
       Menschen wurden festgenommen. Am 28. Dezember 2016 wurde auch Ahmet Şık aus
       seiner Wohnung heraus erneut festgenommen. Diesmal lautete der Vorwurf, mit
       Zeitungsmeldungen die Gülen-Bewegung unterstützt zu haben. Während sich die
       Angeklagten im Cumhuriyet-Prozess im Gerichtssaal zurückhielten, um wegen
       guter Führung eine Strafminderung zu bekommen, bezeichnete Ahmet Şık den
       Staat in seiner Verteidigung als „Mafia“ und sagte, dass die Richter, die
       ihn verurteilten, eines Tages selbst zur Rechenschaft gezogen würden. Nach
       15 Monaten in Untersuchungshaft kam er im März 2018 frei, der Prozess gegen
       ihn dauert an.
       
       Seinen Mut und seine Kompromisslosigkeit habe Ahmet von seiner Mutter, sagt
       Bülent Şık über seinen Bruder. „Mein Vater ist kompromissbereit und
       nachgiebig. Aber meine Mutter legt sich in Konflikten mit ihren Gegnern
       an“, erzählt er am Telefon. Bülent Şık ist Akademiker, während des
       Ausnahmezustands wurde er per Notstandsdekret suspendiert. Er denkt, dass
       sein Onkel, der Anwalt Ahmet Albay, der am 17. April 1980 ermordet wurde,
       Ahmet Şık beeinflusst hat. Ahmet Albay war einer der Nebenklage-Anwälte im
       Fall des Pogroms von Kahramanmaraş, bei dem mehr als 100 Angehörige der
       alevitischen Glaubensgemeinschaft umgebracht wurden. Am 17. April 1980,
       Albay hatte gerade sein Büro verlassen und stieg in sein Auto, wurde er von
       einer Kugel im Rücken getroffen. Er starb am 3. Mai, dem Internationalen
       Tag der Pressefreiheit. Der 3. Mai, sagt Ahmet Şık, sei für ihn deshalb ein
       Tag von doppelter Bedeutung. Er war damals zehn Jahre alt. Ein halbes Jahr
       nach dem Mord kam es zum Militärputsch, viele Menschen aus dem Umfeld der
       Familie Şık seien verhaftet worden, erzählt Bülent Şık. „Was wir in dieser
       Zeit erlebt haben, war ein Einschnitt für uns. Unsere Familie war immer
       politisch.“
       
       Als Ahmet Şık im März freigelassen wurde, wollte er seine Arbeit wieder
       aufnehmen. Doch er habe sehr bald erkannt, dass er in dem repressiven Klima
       seinen Beruf de facto nicht länger ausüben konnte, sagt er mir. Er erzählt
       von seinen Quellen, die sich nicht mehr trauten, seine Anrufe
       entgegenzunehmen, geschweige denn, ihm Informationen zuzutragen. Während er
       noch überlegt habe, was er in der ausweglos scheinenden Lage tun könne, kam
       das Angebot von der HDP. Er zögerte kurz, stimmte dann aber zu, bei den
       Wahlen für das Parlament zu kandidieren. Unterstützt von befreundeten
       Journalisten und seiner Frau Yonca Şık, stürzte er sich in den Wahlkampf,
       reiste durch das Land, trat im südosttürkischen Diyarbakır vor 100.000
       Menschen auf und saß in Istanbul in den demokratischen Parkforen, die
       während der Gezi-Proteste entstanden waren. Am 24. Juni wurde er als
       Abgeordneter für die HDP ins Parlament gewählt.
       
       Zu unserem Treffen in Ankara kam er aus Soma, wo am 13. Mai 2014 301
       Grubenarbeiter umgekommen waren. Früher beobachtete er den Prozess zur
       Grubenkatastrophe als Journalist, nun als Abgeordneter. Jetzt schon
       verbringt Şık einen Großteil seiner Zeit auf Reisen im ganzen Land. Gleich
       nach unserem Treffen brechen wir zum Flughafen auf, er muss nach Antalya.
       Vor dem VIP-Salon des Flughafens sagt er, ein paar Mal sei er auf dem
       Motorrad seines Beraters hergekommen: „Wenn man nicht im Anzug und per
       Dienstwagen vorfährt, glauben die gar nicht, dass man Abgeordneter ist.“
       
       Auch wenn Şık scherzt wie früher, weiß er genau, dass die Last auf seinen
       Schultern jetzt viel schwerer wiegt. Wie soll er einen Diskurs entwickeln,
       der die Wähler*innen von HDP und CHP zugleich anspricht und dabei dem Druck
       der Regierung standhält? Wie soll er den Kampf, den er bisher als
       unabhängiger Journalist führte, jetzt im Rahmen kollektiver Politik
       fortsetzen? Auf dem Flughafen läuft uns Mutlu Öztürk über den Weg. Der
       Mitgründer der HDP denkt, dass es für Ahmet Şık nicht leicht werden wird im
       Parlament. „Jetzt braucht die HDP Mut, strategischen Verstand und Geduld.
       Dass Ahmet Şık über Mut verfügt, hat er im Laufe der Jahre immer wieder
       bewiesen. Der Name Ahmet Şık und das Wort Geduld gehen allerdings nur
       schwer zusammen“, sagt Öztürk.
       
       Ob die Entscheidung richtig war, meint Şık, müsse die Zeit erweisen. Fühlt
       er sich nun sicherer mit der Immunität durch den Abgeordnetenstatus? Er
       lächelt. „In der Türkei gibt es keine Rechtssicherheit, und niemand kann
       sich seines Lebens sicher sein. Wer gegen das System ist und das laut
       ausspricht, lebt gefährlich.“
       
       Wenige Tage später kommt es im türkischen Parlament zum Eklat. In der
       letzten Sitzung vor der Sommerpause hält Ahmet Şık seine erste Rede als
       Abgeordneter. Er wirkt aufgeregt, spricht so schnell, dass sich seine Worte
       fast überschlagen. Die Hände auf das Rednerpult gestemmt, attackiert Şık
       die Regierung scharf. „Wir müssen darüber diskutieren, ob Ihre Regierung
       legitimiert ist und ob das, was Sie machen wollen, rechtmäßig ist“, liest
       er von seinem Skript vor, ohne aufzublicken. „Mit diesem neuen
       Gesetzesentwurf, den Sie uns vorgelegt haben, sind Sie nicht mehr als eine
       schlechte Karikatur der Putschisten.“ Im Publikum gibt es erste
       Zwischenrufe. Er bringt das Grubenunglück in Soma zur Sprache und die
       inhaftierten HDP-Mitglieder. Als er der Regierung vorwirft, unmoralisch zu
       sein, eskaliert die Lage. Mehrere AKP-Abgeordnete unterbrechen ihn mit
       Zwischenrufen und stürmen das Podium. Der Parlamentspräsident schaltet Şık
       das Mikrofon ab. Ab Oktober will Şık weitermachen.
       
       Übersetzung: Sabine Adatepe
       
       28 Jul 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Irfan Aktan
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA