# taz.de -- Berlin nach den Wahlen in der Türkei: Eine emotionale Achterbahnfahrt
       
       > Bei der Wahlveranstaltung der oppositionellen CHP in Berlin weicht
       > Optimismus langsam Ernüchterung. Die AKP feiert mit einem Autokorso.
       
 (IMG) Bild: Hoch erfreut: Erdoğan-Anhänger*innen in Berlin
       
       Berlin taz | Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei sind
       für die in Deutschland lebenden Türken vor allem eins: eine emotionale
       Achterbahnfahrt. Am Sonntagnachmittag ist die „Alte Welt“ in Berlin
       Neukölln mit CHP-Fahnen geschmückt, überall hängen die Bilder des
       Präsidentschaftskandidaten Muharrem İnce. Zwei Kilometer von den
       CHP-Anhänger*innen entfernt macht sich die HDP ebenfalls bereit, um eine
       mögliche Überraschung in diesem turbulenten Wahlkampf mit vorgezogenen
       Neuwahlen zu feiern.
       
       Als die ersten Ergebnisse gegen 18:00 bekannt werden – zu diesem Zeitpunkt
       sind laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi (AA) 20 Prozent
       der Stimmen ausgezählt – überwiegt allerdings vor allem eine Emotion:
       Betroffenheit. Denn AKP-Chef Recep Tayyip Erdoğan liegt in diesem Moment
       bei 70 Prozent Zustimmung, CHP-Kandidat İnce dümpelt bei 25 Prozent. „Egal,
       wen wir aufstellen, Erdoğan betrügt und gewinnt trotzdem“, sagt jemand
       ernüchtert.
       
       Zum ersten Mal tritt CHP-Kandidat und SPD-Mitglied Kenan Kolat an diesem
       Abend ans Mikrofon und fordert die İnce-Sympathisant*innen auf, nicht
       aufzugeben. Erst ein Bruchteil der Stimmen sei ausgezählt und auch Gerüchte
       über [1][mögliche Wahlmanipulationen] seien bereits im Umlauf.
       
       Kolat kandidiert für Listenplatz 20 in Istanbul. Seine Chancen, gewählt zu
       werden, tendieren gen null. Dennoch war er hauptverantwortlich für den
       Wahlkampf seiner Partei in Berlin. „Unsere Busse, mit denen wir die Leute
       zu den Wahllokalen gefahren haben, waren alle voll“, erklärt er
       zuversichtlich. „Wir sind guter Dinge, dass es in die Stichwahl gehen
       wird.“
       
       Sein Optimismus weicht im Verlauf des Abends Verständnislosigkeit,
       Ernüchterung und Zweifel am Wahlergebnis. Dennoch muss er immer wieder das
       Mikrofon ergreifen, um seine ebenso verständnislosen und ernüchterten
       Wähler zu motivieren. Diese versuchen sich immer wieder mit dem
       CHP-Schlachtruf „Halk, Hukuk, Adalet“ (dt. Volk, Recht, Gerechtigkeit) an
       diesem kalten Junitag in Berlin warm zu halten. Indes betonen auch
       CHP-Sprecher Bülent Tezcan und HDP-Verantwortliche in der Türkei immer
       wieder, dass es wichtig sei, an den Wahlurnen zu bleiben, um mögliche
       Manipulationen im Keim ersticken zu können.
       
       Gegen 20 Uhr dann bricht plötzlich Jubel bei der HDP am Kottbusser Tor aus.
       Der Präsidentschaftskandidat Selahattin Demirtaş, der seit November 2016 im
       Gefängnis sitzt, liegt zwar abgeschlagen im einstelligen Prozentbereich.
       Doch bei den parallel stattfindenden Parlamentswahlen hat die HDP es
       geschafft, [2][die Zehn-Prozent-Hürde zu überwinden] und den Einzug in das
       türkische Parlament zu garantieren. Auch die staatliche Nachrichtenagentur
       AA bestätigt das zu diesem Zeitpunkt, obwohl es bereits große Unterschiede
       zwischen den offiziellen Wahlergebnissen und jenen gibt, die von der
       Plattform Gerechte Wahlen herausgegeben werden.
       
       ## „Wir glauben euch nicht“
       
       Kurz darauf tritt bei der Neuköllner CHP Wahlparty Kolat erneut ans
       Mikrofon, um diese Diskrepanz anzusprechen. Laut staatlicher
       Nachrichtenagentur sind gegen 21 Uhr bereits 80 Prozent der Stimmen
       ausgezählt. Diese zeigen zwar, dass Erdoğan immer weiter Stimmen verliert,
       jedoch immer noch mit absoluter Mehrheit gewinnen würde.
       
       Kurze Zeit später wird dieser sich auch zum „inoffiziellen Sieger“ der
       Wahlen erklären. Doch Kolat, über lange Zeit an diesem Abend
       personifiziertes Bollwerk der CHP in Berlin, lässt auch das gekonnt an sich
       abprallen: „Die Präsidentschaftswahl wird in die Stichwahl gehen.“ Ob er
       allerdings seine zu diesem Zeitpunkt weitgehend desillusionierten Fans oder
       sich selbst überzeugen möchte, bleibt dem Beobachter überlassen. „Wir
       glauben euch nicht“, ist die Antwort auf Kolats Ansprache, gemeint sind die
       staatliche Nachrichtenagentur und Präsident Erdoğan.
       
       Während mit jeder ausgezählten Stimme die Rufe in der „Alten Welt“ in
       Neukölln leiser werden, wird es vor allem am Hermannplatz immer lauter.
       Zwischen Polizeisirenen mischen sich hupende Autos. Und während es dunkel
       wird in Berlin und der Mond sichtbar, halten die in Deutschland lebenden
       AKP-AnhängerInnen den türkischen Halbmond aus heruntergelassenen
       Autofenstern, aus denen ebenso laut Wahlkampflieder gespielt werden.
       
       Vermutlich ist das auch Hauptursache für die Wut, die der Ernüchterung der
       CHP-Anhänger*innen zu diesem Zeitpunkt den Rang abläuft. Dieser Wut ist es
       vermutlich auch geschuldet, dass einer der CHP-Anhänger vorbeilaufenden
       Passanten erklärt, Erdoğan sei nicht mehr weit entfernt von Adolf Hitler.
       
       Auch wenn diese mehr als unangebrachten Vergleiche immer noch eine
       Verharmlosung Hitlers sind, zeigen sie eins auf: die oppositionelle
       Bewegung, auch hier in Deutschland, ist stark angeschlagen. Da hilft es
       auch nicht, dass Kenan Kolat noch einmal erklärt, Berlin sei ein Leuchtturm
       der türkischen Demokratie.
       
       25 Jun 2018
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /-Liveticker-Wahl-in-der-Tuerkei-/!5515193
 (DIR) [2] /Wahlen-in-der-Tuerkei/!5515452
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Serdar Arslan
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Türkei
 (DIR) Recep Tayyip Erdoğan
 (DIR) Türkei
 (DIR) Schwerpunkt AKP
 (DIR) CHP
 (DIR) HDP
 (DIR) Präsidentschaftswahl in der Türkei
 (DIR) Schwerpunkt Türkei
 (DIR) Schwerpunkt Türkei
 (DIR) Präsidentschaftswahl in der Türkei
 (DIR) Schwerpunkt Türkei
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Wahlen in der Türkei: Resignation nach Erdoğan-Triumph
       
       Viele Türken haben den Sieg des Herausforderers Muharrem İnce für möglich
       gehalten. Doch der hat nun das Wahlergebnis akzeptiert.
       
 (DIR) Sozialpädagoge über Türkei-Wahl: „Nicht alle sind Antidemokraten“
       
       Knapp eine halbe Million Wähler*innen in Deutschland haben Erdoğan gewählt.
       Die Hintergründe erklärt der Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde.
       
 (DIR) Nach den Wahlen in der Türkei: Der Übergang ins Präsidialsystem
       
       Recep Tayyip Erdoğan ist nun Staats- und Regierungschef. Das Amt des
       Ministerpräsidenten entfällt. Der Präsident kann Dekrete erlassen.
       
 (DIR) Kommentar Wahlen in der Türkei: Auf dem Höhepunkt der Macht
       
       Erdoğan hat alles erreicht, was er erreichen wollte. Was nun kommt, ist das
       quälende Warten auf die Implosion seines Systems.
       
 (DIR) Wahlen in der Türkei: Erdoğan gewinnt auf ganzer Linie
       
       Über 52 Prozent stimmen für Erdoğan. Mit dem neuen Präsidialsystem baut er
       seine Macht aus. Auch im Parlament hat er die Mehrheit.