# taz.de -- Der Fußball und seine Produktion: Die abgehängten Ball-Künstler
       
       > Der aktuelle WM-Ball kommt aus Asien. Der moderne Fußball aber wurde vor
       > über 80 Jahren in Argentinien erfunden. Ein Besuch in Bell Ville.
       
 (IMG) Bild: Ernesto Carnero bereitet alles zum Stanzen vor
       
       Bell Ville taz | Die schwarz-weiße Kugel rotiert zwischen Fernando Fuglinis
       Händen. „Das hier ist ein absolutes High-Tech-Produkt“, sagt der
       Argentinier, der wahrscheinlich mehr von Fußbällen versteht als der
       argentinische Weltstar Lionel Messi. Er stoppt die Rotation des offiziellen
       Spielgeräts der Fußball-Weltmeisterschaft in Russland. „Ein wunderbarer
       Ball“, sagt Fernando Fuglini. Thermogeschweißt, weder maschinell noch
       handgenäht. Fünfzehn Dollar kostet dort die Herstellung des „Telstar 18“.
       Ein Vielfaches jener Massenware, mit denen Ballproduzenten in Asien die
       Bolzplätze in aller Welt bespielen lässt.
       
       Mehr als dreißig chinesische Modelle bewegen sich im Preis unter der
       Fünf-Dollar-Grenze, sagt Fuglini. Er kennt die Kostenstruktur, denn er muss
       dagegen ankämpfen. Ein schweres bis unmögliches Unterfangen, selbst in
       einem Land wie Argentinien, das den Fußball zur Staatsreligion erhoben hat.
       Dale Mas heißt die Firma der Gebrüder Germán und Fernando Fuglini – „Gib
       noch mehr!“. Sie fabriziert 35.000 Fußbälle pro Jahr und ist damit der
       größte Hersteller in Bell Ville, der „nationalen Hauptstadt des Fußballs“,
       wie sie sich stolz nennt.
       
       Die RN 9 ist eine Asphaltschneise durch das grüne Nichts. Zwischen Rosario
       und Córdoba kreuzt die weitgehend ebenerdige Autobahn Felder. Mais, Weizen,
       vor allem Soja. Die Ackerprovinzen Santa Fe und Córdoba sind Argentiniens
       reichhaltigste Kornkammer. Eine Gegend, erschlossen vor gut einem
       Jahrhundert vor allem von Einwanderern aus Italien, die vom Landbau etwas
       verstanden und heute in Sachen Technikeinsatz und Produktivität an der
       Weltspitze stehen. Mit seinen reichen Feldern und seiner vielfältigen
       mittelständischen Industrie gilt Córdoba als das Herz Argentiniens. Bell
       Ville ist das Fußballherz. Zur Capital Nacional de la Pelota de Fútbol
       adelte Argentiniens Kongress die 42.000-Einwohner-Gemeinde 550 Kilometer
       westlich der Kapitale Buenos Aires. 500.000 Fußbälle werden hier
       alljährlich produziert. Etwa fünfzehn Betriebe gebe es in der Stadt selbst,
       schätzt Fußballproduzent Fernando Fuglini, in den umliegenden Orten finden
       sich noch zwanzig weitere Hersteller.
       
       „Superball Bell Ville. Delegation Argentinien. Aufbruch Samstag nach
       Italien. Ein Dutzend Fußbälle sofort schicken. Absender Fußballverband
       Argentinien – AFA“, steht im Bestelltelegramm, das kurz vor der
       Fußball-Weltmeisterschaft 1934 in Italien nach Bell Ville übermittelt
       wurde.
       
       ## Die Erfindung des modernen Fußballs
       
       Warum nach Bell Ville? Bei der ersten Weltmeisterschaft 1930 in Uruguay
       wurde mit Lederbällen gespielt, die mit einem Riemen verschlossen waren.
       Viele Spieler trugen damals eine Baskenmütze oder ein Barett, um sich bei
       Kopfbällen vor Verletzungen durch den Lederriemen zu schützen. Im Finale
       trafen Uruguay und Argentinien aufeinander und konnten sich im Vorfeld
       nicht darauf einigen, mit welchem Ball gespielt werden sollte. Beide Bälle
       waren sich ziemlich ähnlich und hatten den Lederriemen. Schließlich wurde
       entschieden, die erste Halbzeit mit dem Ball aus Argentinien (Halbzeitstand
       2:0 für Argentinien) und die zweite Halbzeit mit dem aus Uruguay zu
       spielen. Angeblich dank des heimischen Spielgeräts gewann Uruguay am Ende
       noch mit 4:2.
       
       All das hörten drei Männer in Bell Ville im Radio. Frustriert von der
       Niederlage erfanden sie den Fußball neu. Bis dahin wurde eine zugeknotete
       oder mit einem damals üblichen Ventil versehene Luftblase im runden Leder
       lose verstaut und mit einem Lederriemen zugezogen. Nun tüftelten die drei
       an einem nach innen gerichteten Ventil, das sich zugleich am Leder fixieren
       ließ. Damit konnten sie die Luftblase einsetzten, am Leder festkleben und
       den Riemen durch eine nicht mehr sichtbare kleine Öffnung für das Ventil
       ersetzen. Patentiert und produziert trat der „Superball“ aus Bell Ville
       1931 seinen Siegeszug um die Welt an.
       
       Schon als Kinder werkelten der heute fünfundfünfzigjährige Fernando und
       sein fünf Jahre jüngerer Bruder Germán in der Firma, die Vater Roberto 1965
       in drei alten Schuppen eingerichtet hatte. Fernando schwärmt von der guten
       Zeit. Sie hatten sechzig Angestellte und rund 500 NäherInnen. „Wir machten
       10.000 Bälle im Monat.“ Mit achtzehn reiste er Anfang der 1980er nach
       Buenos Aires zu den großen Sportartikelgeschäften. Auf dem Bestellzettel
       fixierten sie nur die Preise, nie die Menge. „Die Einkäufer sagten nur,
       'Bring mir Fußbälle, ich sage dir, wann es genug ist.“
       
       Im Jahr 1985, während der argentinischen Hyperinflation, habe man an
       manchen Tag morgens, mittags und abends neue Preislisten herausgeben
       müssen, erinnert sich Germán Fuglin. Mit zwei Telefonen wurden gleichzeitig
       Verkauf und Einkauf organisiert. „Am einen Ohr verkauften wir 100 Bälle, an
       dem anderen Ohr kauften wir das Material für die nächsten 100 Bälle“, sagt
       Germán.
       
       Als Präsident Carlos Menem in den 1990ern Argentinien für Importe öffnete,
       wurde eine zweijährige Steuer auf ausländische Fußbälle vereinbart, um die
       heimischen Hersteller zu schützen. Wegen der Wirtschaftskrise ging der
       Verkauf dennoch zurück. Nach dem ökonomischen Zusammenbruch um die
       Jahrtausendwende zeigte die Kurve noch weiter nach unten. Schließlich
       drosselte die argentinische Regierung die Importe wieder. Im Jahr 2003
       produzierten sie in Bell Ville schon wieder 50.000 Fußbälle.
       
       Beim Stadion von Club Atlético Talleres de Bell Ville steht die kleine
       Gittertür am Seiteneingang offen. Eingezäunt von Maschendraht und
       Betonplatten liegt der etwas holprige Rasen. Einsam steht das übergroße
       Clubwappen in Blau und Rot hinter dem rechten Tor. Im Jahr 1926 gegründet,
       kickt die erste Mannschaft heute in der regionalen Liga Bellvillense de
       Fútbol.
       
       Nichts deutet darauf hin, dass der berühmteste Fußballsohn der Stadt hier
       seine ersten Treffer markierte. Im blauroten Trikot des Sportclubs Talleres
       startete Mario Kempes seine Karriere. Deren Höhepunkt war die
       Weltmeisterschaft 1978 im eigenen Land. Mit sechs Treffern, davon zwei im
       gewonnenen Endspiel gegen die Niederlande, avancierte ‚El Matador‘ Kempes
       zum besten Torschützen.
       
       „Mario ist ein Freund der Familie“, sagt Fernando Fuglini. Im seinem Büro
       hängt ein großes Foto, auf dem der Stürmerstar den „TT 48“ in den Händen
       hält. La Perfecta, der Perfekte, wird der aus 48 Lederteilen genähte
       Dale-Mas-Ball ehrfurchtsvoll genannt. Mehr als hundert Tore hat Mario
       Kempes mit ihm geschossen.
       
       „Heute werden Bälle meist aus 32 Teilen hergestellt, zwanzig Sechsecke und
       zwölf Fünfecke“, sagt Fernando Fuglini. Bis zur Weltmeisterschaft 1978
       wurde mit Leder produziert. Dann kam der Kunststoff. Erst war es PVC.
       Robust, aber hart bei niedrigen Temperaturen im Winter. Dann der Umstieg
       auf Polyurethan. „Springt fein ab, verhärtet nicht und saugt keine Nässe
       auf.“ Die Normen der Fifa und des nationalen Fußballverbands AFA verlangen
       das.
       
       ## Das Geheimnis liegt im Inneren
       
       Das Geheimnis eines guten Balls liegt in seinem Inneren. Kreuz und quer
       werden dünne Nylonfäden mit großer Geschwindigkeit auf einer rotierenden
       Fassrolle verspinnt. Der beißende Geruch von Latex liegt in der Luft. Das
       Gespinst, wird jetzt mit Latex verklebt. Einmal getrocknet ist es praktisch
       unzerreißbar. „Das macht den Ball stabil, reißfest und gibt ihm einem guten
       Auf- und Abprall“, sagt Germán Fuglini.
       
       Wumpf, wumpf, wumpf. Monoton verkündet die kleine Stanzmaschine den
       einzigen technischen Fortschritt. In dem alten Schuppen hat sich nichts
       verändert. Eine Stimme aus dem verstaubten Transistorradio verbreitet
       Vorfreude auf die WM in Russland und stoppt mit einer Schreckensmeldung:
       Torwartlegende Sergio Romero hat sich im Training verletzt und kann nicht
       mitfahren. „Auch das noch“, seufzt Ernesto Carnero, beugt sich weit über
       den Arbeitstisch und verstreicht gelblichen Klebstoff über ein Vlies aus
       Polyurethan. Ein alter Ventilator in der Ecke verweht die giftigen Dämpfe.
       Später legt er das Vlies über das Nylonfadengespinst. „Fest andrücken und
       ruhen lassen.“ „Für uns ist die WM in Russland auch so schon gelaufen“,
       sagt er.
       
       Seit zwanzig Jahren arbeitet der kauzige Alte bei Dale Mas. Vor jeder WM
       hätten sie viele Bälle gemacht, erzählt er. „Ganze Familien haben Bälle
       genäht. Ich kenne die alle, bin jahrelang rumgegangen, habe die Bälle
       geholt, fünf da, sechs dort. Sogar aus Buenos Aires kam Material zum Nähen.
       Heute gibt es in Buenos Aires keine Fabriken mehr und in Bell Ville haben
       schon viele geschlossen. Nachfrageboom wegen Russland? „Nicht bei uns“,
       winkt er ab.
       
       Dreimal in der Woche ist bei Dale Mas Annahme. Dann kommen die NäherInnen,
       bringen die fertigen Fußbälle und nehmen die Einzelteile für die nächsten
       mit. Erwartet werden sie von Ana Rosa Vaía. Seit 1975 ist sie im Betrieb,
       jetzt fehlen ihr noch zwei Monate bis zur Rente. „Gestern waren es 44
       Bälle, ein normaler Eingang“, sagt sie. Marie Turra bringt fünf Bälle.
       Knapp drei Stunden hat die 28-Jährige an jedem genäht. Siebzig Peso,
       umgerechnet 2,35 Euro, bekommt sie für jeden Ball, ein Zubrot zum
       Familieneinkommen. „Hier bezahlen sie am besten, bei den anderen gibt es
       nur 55 oder 60 Peso.“ Sie steckt die neuen Materialien in die Tasche und
       geht.
       
       ## Fast alles ist hier noch Handarbeit
       
       Neunzig Prozent der NäherInnen sind Frauen. Männer kommen nur, wenn auf dem
       Bau oder in der Landwirtschaft Flaute ist. Niemand von ihnen hat einen
       Vertrag. Ohne die Heimarbeit gäbe es in Bell Ville keine Fußballproduktion.
       „Müssten wir den NäherInnen Sozialleistungen zahlen, wäre die Produktion
       schlicht zu Ende,“ gesteht Firmenchef Fernando Fuglini.
       
       Ernesto Carnero sitzt im Innenhof zwischen den Schuppen und näht an einem
       Ball. Routiniert sticht er die dicke Nadel durch die Löcher und zieht den
       Faden fest. Der ist eingewachst, dann läuft er besser durch. Solange
       geradeaus genäht wird, gibt es keine Probleme. Schwierig wird es erst, wenn
       es über Kreuz geht. „Das kriegt keine Maschine gut hin“, sagt Carnero. In
       Bell Ville werden alle Bälle von Hand genäht. Die Luftkammer ist genauso
       wichtig wie die Hülle. Bei den Ramschbällen aus Fernost sei die Kammer
       extra schwer, meint Ernesto Carnero. So entstehe der Eindruck, der Ball sei
       gut. Das Plastik ist so dünn, damit es schnell und leicht mit der Maschine
       genäht werden kann. Er zieht den Arbeitskittel aus und holt sein Fahrrad.
       „Ich muss jetzt zu meiner zweiten Arbeit, ich bin auch Bäcker. Von Bällen
       allein kann hier kaum noch jemand leben“, ruft er und radelt davon.
       
       Bälle werden in Bell Ville nur noch für den Binnenmarkt produziert. Für den
       Weltmarkt sind sie zu teuer. Die Bälle aus Südostasien werden maschinell
       oder von Hand genäht. Beim Verkaufspreis fällt der Unterschied nicht groß
       ins Gewicht. „Zum Glück müssen heute internationale Firmen wie adidas oder
       Nike nachweisen, dass ihre Bälle nicht von Kindern gefertigt wurden“, sagt
       Fernando Fuglini. Seitdem Argentiniens Präsident Mauricio Macri seit gut
       zwei Jahren die Importbeschränkungen immer weiter lockert, rollen die Bälle
       aus Asien unaufhaltsam ins Land. Das Paradebeispiel lieferte wenige Monate
       vor der Weltmeisterschaft ausgerechnet der staatliche Ölkonzern YPF. Wer an
       einer der landesweiten Zapfsäulen seinen Tank für mindestens 700 Peso
       (23,50 Euro) füllt, kann für unschlagbar günstige 250 Peso einen Fußball
       dazukaufen. Für die Aktion hat der Konzern 1,2 Millionen Fußbälle aus China
       importiert. Zwar hätten sie aus Bell Ville mit dem obersten YPF-Chef
       verhandelt. Dem sei es aber nur um einen günstigen Preis gegangen und nicht
       um die nationalen kleinen Unternehmen, heißt es. „Jeder Ball kostet YPF im
       Einkauf 70 Peso“, weiß Fernando Fuglini.
       
       Mit seinem schachbrettartigen Grundriss ist Bell Ville eine typische
       argentinische Stadt. Flache Häuser säumen die Straßen, auch um die zentrale
       Plaza 25 de Mayo. Vor dem Rathaus steht das Monument für den „Superball“.
       Im Rathaus regiert Carlos Brinner. Sehr tüchtig und sehr beliebt, schüttelt
       der 49-Jährige alle Hände, nach denen er greifen kann. Aber Brinner hat ein
       Problem. Seine Partei ist Mitglied der Regierungskoalition von Präsident
       Mauricio Macri. Im Wahlkampf hatte der versprochen, die weiterverarbeitende
       Industrie zu stärken. Argentinien müsse sich vom simplen
       Rohstofflieferanten in einen Supermarkt für veredelte Produkte verwandeln,
       lautete die Parole. Nicht nur in Bell Ville, sondern in der ganzen Provinz
       Córdoba hörten sie das gerne. Die entscheidenden Stimmen für Macris knappen
       Sieg in der Stichwahl vom November 2015 kamen aus Córdoba. Zwar unterstütze
       er rückhaltlos den Präsidenten, so der Bürgermeister, aber in Sachen Handel
       hadere auch er mit ihm. „Anstatt lokal nach Verbesserungen zu suchen, wird
       einfach im Ausland gekauft“, so Brinner.
       
       „Präsident Mauricio Macri macht Politik für die Großunternehmen. Die
       kleinen und mittleren Unternehmen interessieren ihn nicht“, sagt Fernando
       Fuglini. Für den Rückgang der Produktion in Bell Ville werden aber nicht
       nur die Importe aus dem Ausland verantwortlich gemacht. Die Kaufkraft der
       ArgentinierInnen ist rückläufig, seit die zweistellige Inflationsrate nicht
       mehr durch entsprechende Lohnerhöhungen ausgeglichen wird. Und Fußbälle
       gehören nicht zu den allerwichtigsten Notwendigkeiten in einer Familie.
       Zudem interessieren sich auch die Kinder und Jugendlichen in Argentinien
       verstärkt für elektronische Produkte. „Fußball wird heute immer mehr mit
       dem Computer gespielt und immer weniger auf dem Bolzplatz“, sagt der
       Fußballhersteller Fuglini bedauernd.
       
       Der russische Weltmeisterschafts-Spielball „Telstar 18“ sei etwas für einen
       gepflegten Rasen in hochmodernen Stadien und nichts für holprige
       Bolzplätze, die von rostigen Zäunen umgeben sind, heißt es abwertend in
       Bell Ville. „Einmal richtig dagegen geballert, ist die Luft raus“, sagt
       Germán Fuglini. Billigbälle würden noch schneller schlapp machen. Doch in
       Argentiniens Sportgeschäften sind nur noch Importbälle im Angebot. Bei Dale
       Mas setzen sie deshalb auf den Direktverkauf. Neunzig Prozent des Verkaufs
       geht direkt an Stadtteilclubs und an Vereine in den unteren Ligen. „Die
       wissen, dass unsere Fußbälle mehr hergeben“, sagt Fernando Fuglini.
       
       13 Jun 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jürgen Vogt
       
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