# taz.de -- In Greifswald klappt das mit der Inklusion
> Die Martinschule hat soeben den wichtigsten deutschen Bildungspreis
> gewonnen. Ihre Schüler schneiden überdurchschnittlich gut ab – obwohl
> jeder zweite Förderbedarf hat
(IMG) Bild: Die Martinschule liegt in einem Greifswalder Plattenbauviertel. Einst war sie Schule für Geistigbehinderte, heute ist sie Modellschule für Integration
Aus Greifswald Anke Lübbert
Auch Tom* ist jetzt Hauptpreisträger. Er ist schwer geistig behindert und
sitzt im Rollstuhl. Für ein paar Sekunden hält er den silbernen Pokal in
den Händen und hebt ihn hoch über seinen Kopf. Am Morgen nach der
Preisverleihung steht Schulleiter Benjamin Skladny vor seiner Schule und
drückt ihn allen Kindern, die zur Tür hineinwollen, in die Hand. Das
Evangelische Schulzentrum Martinschule in Greifswald hat in der vergangenen
Woche den wichtigsten deutschen Bildungspreis, den Deutschen Schulpreis der
Robert Bosch Stiftung, verliehen bekommen. Jetzt soll jeder die
Auszeichnung einmal halten.
Die Martinschule liegt in einem Greifswalder Plattenbauviertel. Sie war mal
eine Schule für Geistigbehinderte und setzt Inklusion so radikal um wie
vermutlich keine andere in Deutschland. 48 Prozent der Schüler hier haben
einen Förderschwerpunkt: eine geistige Behinderung, sozial-emotionale
Defizite oder Lernschwächen.
„Ich war mir nicht sicher, ob die Jury mutig genug ist, solch ein klares
Zeichen zu setzen“, sagt Benjamin Skladny, „Bildung muss endlich anders,
nämlich vom Kind her, gedacht werden.“ Skladny, 56 Jahre alt, ist
Sonderschullehrer und Leiter einer Gesamtschule, an der man auch das Abitur
machen kann. In den Vergleichsarbeiten schnitten die Schüler*innen
überdurchschnittlich ab.
Seit Jahren wird gestritten, ob und wie Inklusion in Deutschland
funktioniert. Erst im März hatte eine Schulleiterin in Bremen geklagt, weil
sie keine Kinder mit Einschränkungen an ihrem Gymnasium unterrichten
wollte. Die Selbstverständlichkeit, mit der an der Martinschule selbst
Kinder mit schwersten Behinderungen gleichzeitig mit Normal- und
Hochbegabten unterrichtet werden, ist da fast schon eine Provokation.
Warum gelingt hier, woran sich bundesweit alle abarbeiten? Die Schule
startete 1992 als Schule für Geistigbehinderte, die in der DDR als
„schulbildungsunfähig“ galten und mit Glück in Tagesstätten untergebracht
waren. Skladny hatte noch zu DDR-Zeiten Sonderpädagogik studiert. „Von
Anfang an war das Ziel, diese Kinder in die Mitte der Gesellschaft zu
holen“, sagt er. Der erste Schritt: 2000 lagerte eine seiner Schulklassen
an eine benachbarte Grundschule aus. Eigentlich war der Plan, damit alle
Klassen an Schulen der Stadt anzudocken und die Martinschule aufzulösen.
Weil aber nach dem Ende der Grundschulzeit keine weiterführende Schule
diese Klasse übernehmen wollte, war das Experiment schnell gescheitert.
Stattdessen gründete Skladny eine eigene Grund- und später Gesamtschule.
550 Kinder gehen heute hier zur Schule, sie werden von 150 Lehrern,
Erziehern und Integrationshelfern begleitet und unterrichtet.
Und das sieht dann zum Beispiel so aus: Im 5. Jahrgang sitzen Kinder in
fünf verschiedenen Räumen. Die Kinder mit geistigen Behinderungen benennen,
schmecken, zeichnen und beschreiben Obstsorten in der Cafeteria. Außerdem
gibt es zwei Deutsch- und zwei Matheangebote. Jeder macht das, was seinem
Leistungsstand entspricht. Die beiden Mädchen, die am weitesten sind, lösen
Matheaufgaben aus dem Lehrplan der 6. Klasse. Andere sind noch beim
Multiplizieren und Dividieren. Einige arbeiten in Teams, andere alleine,
neben manchen Kindern sitzt ein Integrationshelfer.
Ab der ersten Klasse lernen die Kinder an dieser Schule, sich möglichst nur
mit sich selber zu vergleichen. Sie machen Projektarbeit, Werkstätten,
Kunstwochen, Maltherapie, Englischtage. Es gibt bis Klasse 9 keine Noten,
kein Sitzenbleiben, keine 45-Minuten-Blöcke, kein Pausenklingeln, fast
keinen Frontalunterricht. Schon in der Grundschule sind selten alle Kinder
gleichzeitig im Klassenraum, immer bereitet einer einen Vortrag im
Nebenraum vor, sitzt in der Bibliothek, interviewt eine Gruppe Passanten
auf der Straße. Andere üben derweil, einen Stift zu halten.
„Individualisierter Unterricht“, das heißt an der Martinschule, dass es
nicht einen Unterricht für alle gibt, sondern einen für jedes Kind. Die
Lehrer machen vieles von dem, was Wissenschaftler seit Jahren empfehlen.
Projektunterricht, Mitbestimmung, fächerübergreifendes und individuelles
Lernen. Aber es wirkt nicht so, als sei das Selbstzweck, eher wie Notwehr.
Eben das, was man macht, wenn man Kinder mit immensen
Leistungsunterschieden gleichzeitig unterrichten will.
„Wir sind noch lange nicht fertig“, sagt Benjamin Skladny. „Warum sollten
zum Beispiel nicht Schüler bereits im 10. oder 11. Jahrgang ihr
Mathe-Abitur ablegen können und möglicherweise während der Schulzeit schon
‚parallel‘ studieren?“ Und könnten wir als Schule nicht ein Schullandheim
bauen, das die geistig behinderten Jugendlichen der Abschlussklassen dann
als Übungsobjekt mitbetreiben?
Der Schulpreis könnte bei der Umsetzung der Zukunftspläne einige Türen
öffnen. Das Preisgeld, die 100.000 Euro von der Bosch-Stiftung, würde
Benjamin Skladny gerne in eine eigene Turnhalle stecken. Das Geld wird
nicht ausreichen. Aber vorige Woche, ein paar Tage nach der
Preisverleihung, war Birgit Hesse (SPD), Bildungsministerin von
Mecklenburg-Vorpommern, zu Besuch. Vor der Nominierung hatte sich die
Landesregierung nicht besonders für die Schule interessiert. Jetzt stellte
sie vage Mittel für die Turnhalle in Aussicht und fragte Skladny, ob er
Interesse an inhaltlicher Kooperation habe.
Die Martinschule ist eine freie Schule, die häufig den Vorwurf bekommt,
dass sie mehr Geld zur Verfügung hat als staatliche Schulen. Das hat sie
nicht. Jede staatliche Schule könnte mit der gleichen Zusammensetzung der
Schülerschaft über die gleichen Mittel verfügen. Aber sie hat die Freiheit,
alles was Schule in Deutschland bedeutet, zu vergessen und sich etwas Neues
auszudenken.
Nachdem man einen Tag an der Schule verbracht hat, dreht sich die
Beweislast auf einmal um. Die Frage ist nicht mehr: „Warum geht das hier?“
Sondern: „Warum klappt es überall anders nicht?“
*Name geändert
23 May 2018
## AUTOREN
(DIR) Anke Lübbert
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