# taz.de -- Ismail Ismail Im Augenblick: Lüneburg ist wie Jekyll und Hyde
       
       Es ist vier Jahre her, dass ich in Lüneburg ankam. Es war am Ende des
       Sommers, und es war der einzige richtig warme Sommer, den ich bis jetzt in
       Deutschland erlebt habe. Direkt nach meiner Ankunft ging ich in die Stadt,
       um zu wissen, was mich erwartet. Es ist bei mir schon immer so gewesen,
       wenn ich in eine neue Stadt gezogen bin: In den ersten Tagen beschnuppere
       ich meine Umgebung, bis ich langsam meine Ecken und Plätze gefunden habe,
       wo ich so etwas wie ein Stammkunde werde.
       
       Mein Eindruck nach dem ersten Monat war, dass Lüneburg gemütlich ist. Jetzt
       weiß ich, in welchem Café ich jeden Tag meinen Kaffee trinke und dabei die
       Menschen am Marktplatz beobachten kann. Mittlerweile ist das ein Ritual für
       mich und einige meiner Freund_innen geworden. „Und wirst du dieses Café
       vermissen?“, fragt mich meine Freundin, während wir beide, wie gewöhnlich,
       durch das große Fenster die Menschen am Marktplatz beobachten. Mein Umzug
       steht bevor. „Bestimmt.“ Lüneburg ist für mich mit diesem Café untrennbar
       verbunden: Ich muss mich nicht mit Freund_innen verabreden. Wir kommen
       hierher und wissen, dass irgendjemand von uns da ist. Manchmal belegten wir
       bis zu fünf Tische auf einmal. „In die Stadt gehen“ ist gleichbedeutend mit
       ins Café am Markt gehen.
       
       Immer, wenn ich da war, kam mir die Geschichte der Ursula-Nacht ins
       Gedächtnis. Die Ursula-Nacht ist die Nacht vom 20. auf den 21. Oktober und
       die Geschichte handelt davon, wie im Jahre 1371 ein Bäcker im Kampf für
       Selbstständigkeit 22 Kämpfer des Herzogs Magnus Torquatus von Braunschweig
       getötet haben soll. Die Geschichte Lüneburgs nimmt fast immer einen großen
       Teil in unseren Gesprächen ein. Wie zum Beispiel das Salz zum Wohlstand der
       Stadt beigetragen hatte. Allerdings: Am Sande, wo einst ein
       Salzhandelstreffpunkt existierte, ist heute ein Knotenpunkt für Busverkehr,
       Einzel- und Dönerhandel sowie den illegalen Verkauf von Marihuana.
       
       Am Sande zu stehen und sich über den schiefen Turm der Johannis-Kirche zu
       unterhalten, macht Spaß. Vor allem, wenn man sich Geschichten ausdenkt,
       weshalb der Erbauer nicht auf die Gefahr der Neigung des Turmes geachtet
       hatte. Was auch immer der Grund seien soll, im Sommer auf der Wiese neben
       der St.-Johannis-Kirche und gegenüber der Jekyll-&-Hyde-Kneipe zu liegen,
       ist einfach wunderschön. Gerade wenn man den ganzen Winter das Kaminfeuer
       im Jekyll mit einem Bier genossen hat und dabei ein angenehmes Gespräch mit
       Menschen geführt hat, denen Hautfarbe, Religion und ethnische Zuordnung
       unwichtig sind.
       
       Das werde ich sehr vermissen, so wie die Spaziergänge an der Ilmenau, die
       leider immer wieder mit einer Verärgerung endeten, denn es ist unschön und
       vor allem unverständlich, dass die Pferdestatue vor dem Museum immer noch
       unkommentiert dort seht: Es soll ein Geschenk Hitlers an den damaligen
       Gauleiter gewesen sein und wird daher immer wieder aus Protest von
       Unbekannten bemalt, woraufhin die Stadt eine Menge Geld bezahlt, um es
       wieder reinigen zu lassen.
       
       „Weißt du, deswegen besteht für mich eine Ähnlichkeit zwischen ‚Jekyll &
       Hyde‘ und Lüneburg“, sage ich zu meiner Freundin. Einerseits ist es eine
       sehr gemütliche und relativ linke, offene Stadt. Andererseits verwundert
       mich der offizielle Umgang mit der Erinnerungskultur zum
       Nationalsozialismus: dass zum Beispiel in der Theodor-Körner-Kaserne den
       Toten des Luftgeschwaders der Legion Condor gedacht wird, das unter anderem
       die spanische Stadt Guernica bombardiert hat.
       
       Dank meiner Freund_innen kenne ich mich jetzt mit der Geschichte Lüneburgs
       ein bisschen aus und verdanke ihnen diese schöne Zeit, die ich dort mit
       Musik, Kunst, Aktivsein und auch mal Entspannung verbracht habe. Deshalb
       ist mir Lüneburg eine Heimatstadt geworden.
       
       4 May 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ismail Ismail
       
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