# taz.de -- Zwei Leben in einem
       
       > In Peter Stamms neuem Roman trifft ein Mann sein jüngeres Ich – und sucht
       > die Frau auf, die er damals schon liebte
       
       Von Annabelle Seubert
       
       Ein Mann rennt zur Bäckerei, Sprühregen im Gesicht, er ist so glücklich wie
       er es noch nie war: Zu Hause wartet die Frau, die ihm den vielleicht besten
       Grund zu leben gibt. Sie sind zusammen durch die Berge gewandert. Sie haben
       zusammen auf den Betten eines Möbelgeschäfts gelegen. Sie haben die Küche
       neu gestrichen, „wie betrunken von den Dämpfen der Farben“ und voneinander.
       
       Und dann denkt er übers Abhauen nach. Im Regen „wegzulaufen“, einfach so.
       Es ist nur ein Gedanke, der wieder verfliegt, nur ein Halbsatz in jenem
       neuen Roman von Peter Stamm – eine Bedrohung von vielen. Karg umrissen und
       in die Stamm-typische, leise Melancholie gehüllt, die süchtig machen kann
       und auf die mächtigen Fragen warten lässt, die er in seinen Büchern stellt:
       Wie hält man das Glück eigentlich aus, wenn es kommt? Wie den Anfang einer
       Liebe, wenn man bereits ihr Ende ahnt?
       
       Und wenn man in der Mitte seines Lebens noch mal ein paar Dinge
       geraderücken könnte: welche wären das?
       
       „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ heißt Stamms Buch – wie eine Antwort
       auf „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“. Und um das Sein natürlich
       geht es, darum, mit wem man es gern geteilt hätte. Rückkehr und Reue
       eingeschlossen, einem „Ich liebe dich immer noch“, zu spät geflüstert:
       Christoph ist um die fünfzig, als er die viel jüngere Lena wiedertrifft.
       Sie ist die Frau, für die er damals durch den Regen gerannt ist und die er
       längst verloren hat. Jetzt lauert er ihr in Stockholm auf, hinterlässt ihr
       eine Nachricht, sie laufen über einen Friedhof und durch verschneite
       Straßen, während er ihr seine Geschichte erzählt. Oder eigentlich: ihre
       gemeinsame, die sie noch nicht vollständig kennt.
       
       Christoph erzählt ihr von dem Buch, das er vor Jahren geschrieben hat. Wie
       er anschließend auf Lesereise einem Nachtportier begegnet ist und – „es kam
       mir vor, als schaute ich in einen Spiegel“ – sich in ihm erkannt haben
       will. Dasselbe Gesicht. Dieselbe Art, die Beine übereinanderzuschlagen.
       „Chris“, das ist er, als er jung war. Hartnäckig bis missmutig daran
       arbeitend, Schriftsteller zu werden.
       
       ## Welches Gefühl ist echt?
       
       Christoph kennt Chris’ Fehler, sein Leben und dessen Verlauf. Er kennt den
       Roman, den Chris bald schreiben wird, und genauso die Frau, von der der
       Roman handeln wird: „Magdalena“, eine Schauspielerin, sie und Chris werden
       durch die Berge wandern. Sie werden durch ein Möbelgeschäft gehen und die
       Küche neu streichen, „ein Bild von einem Paar“. Der talentierte
       Schriftsteller und die talentierte Schauspielerin.
       
       Lena und Christoph, Magdalena und Chris, früher und jetzt: Stamms Roman ist
       ein Verwirrspiel der Zeiten, ein Labyrinth mit mehreren Ein- und Ausgängen
       – und darin die richtigen zu finden ist schwer. Wer treibt wen vor sich
       her? Welches Gefühl ist echt? Wie glaubwürdig ist es, dass eine Frau einem
       vertraut wirkenden, aber fremden Mann durch die Stadt folgt, „als hätte sie
       nie etwas anderes getan“?
       
       Dazu all die Spuren, die Stamm zu einer anderen Geschichte legt. Zu
       „Agnes“, seinem berührenden Debüt von 1998, in dem ein desillusionierter
       Schriftsteller eine jüngere Frau liebt. Und schließlich die Parallelen zu
       ihm, Peter Stamm, dem Schriftsteller Mitte fünfzig, der seine Romanfigur
       nun in der Werbebranche arbeiten und ihre ersten literarischen Versuche am
       Granittisch eines Hotels tippen lässt – genau wie er das einst getan hat.
       
       Das ergibt ziemlich viel Stoff; einen Plot, der sich zunehmend konstruiert
       liest, und auf 160 Seiten leider nicht ganz klar. Man verwirrt sich oft in
       jenem Labyrinth, blättert wieder und weiter zurück. Auch wenn Stamm so
       kunstvoll über die kleinen Momente schreibt, die eine Menge verändern, wie
       er es immer tut. Und dabei so schön von den Unabänderlichkeiten der Welt
       erzählt, als berichte er vom Wetter:
       
       „Und was geschieht, wenn ich meine Schönheit verliere?“
       
       „Mit jugendlichem Pathos hatte ich geglaubt, mich zwischen ihr und dem
       Schreiben entscheiden zu müssen, zwischen Liebe und Freiheit. Jetzt erst
       begriff ich, dass das eine nicht ohne das andere möglich war.“
       
       5 May 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Annabelle Seubert
       
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