# taz.de -- Funken für unser Jahrhundert
       
       > Theoretischer Glanz, praktisches Elend: Der Wissenschaftshistoriker
       > Jürgen Neffe hat über Karl Marx eine vorurteilsfreie, gut lesbare und
       > kenntnisreiche Biografie geschrieben
       
 (IMG) Bild: Zum Glück hält Neffe Abstand zum Marx-Kult: Bodenvase aus Russland
       
       Von Detlev Claussen
       
       Ein Gespenst geht um in Europa: Karl Marx. Zumindest geistert er seit der
       Finanzkrise von 2009 durch die Feuilletons. Seit dem Zusammenbruch des real
       existierenden Sozialismus 1990 wurde er öffentlich im Westen als toter Hund
       behandelt. Die westliche Welt braucht ihn nicht mehr als vermeintlichen
       Ideengeber kommunistischer Zwangssysteme.
       
       Im Osten waren die zahlreichen Denkmäler vor der Demontage nicht sicher.
       Aber vor seinem Grab in London reißt die Besucherschlange bis heute nicht
       ab. Es kommen nicht nur Chinesen, die nun auch seiner Geburtsstadt Trier
       eine überdimensionierte Marx-Statue spendiert haben.
       
       Die Welt steht kopf. Das kommunistische China, das der globalisierten
       Weltwirtschaft nach 1989 den entscheidenden Spin gegeben hat, errichtet dem
       schärfsten Kritiker der globalisierten Weltwirtschaft ein letztes Denkmal.
       
       Die chinesischen Kommunisten verehren in Marx den Urvater des Kommunismus,
       den Ahnen ihrer erfolgreichen Revolution, die China zu einer Weltmacht
       gemacht hat. Die chinesischen Touristen aus der neuen Mittelschicht sehen
       in dem sinisierten Marx einen Wegbereiter ihres Wohlstands. Mit dem
       lebendigen Kommunisten Marx und dem Erforscher der Bewegungsgesetze des
       Kapitals hat die Statue nur den langen Bart gemein.
       
       Diesen Kommunisten und Theoretiker Marx hat der Wissenschaftshistoriker
       Jürgen Neffe in einer 650-seitigen Biografie zum Leben erweckt. Keine Angst
       vor dem Umfang: Das Buch ist flüssig geschrieben, der Lebensweg wird
       spannend aufbereitet und der dornenreiche Leidensweg zu einer großen
       kritischen Theorie anschaulich dargestellt. Neffe, der schon mit Biografien
       von Einstein und Darwin geglänzt hat, gelingt es, einen Zugang zu
       schwierigen Theorien zu eröffnen, die schon manchen Marx-Forscher und
       Gesellschaftswissenschaftler vor schwer zu lösende Probleme gestellt haben.
       Sein Buch kann man verstehen, auch wenn man noch gar nichts von Marx
       gelesen hat.
       
       Mit dem Gespenst des Kommunismus kann man heute niemanden mehr erschrecken.
       Die schreienden Widersprüche zwischen der Marx’schen Theorie und der
       kommunistischen Praxis im 20. Jahrhundert lassen sich pointiert
       herausarbeiten. Umso vorurteilsfreier kann Neffe sich den Autoren des
       „Kommunistischen Manifests“, Marx und Engels, nähern. Im Februar 1848 ist
       es formuliert worden; damals in den Wirren der europäischen Revolution hat
       es kaum jemand zu sehen bekommen; dennoch wurde es zum Wegweiser durch das
       lange 19. Jahrhundert. Neffe gelingt es vorzüglich, den historischen
       Scheitelpunkt des Hochkapitalismus zu bestimmen, auf dem diese
       schriftstellerische Meisterleistung möglich wurde.
       
       Die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise zu einem globalen
       System in einem säkularen Prozess wird in einem großen Bogen skizziert. Die
       Autoren werden weder zu Propheten noch zu toten alten weißen Männern
       stilisiert. Neffe zeigt die erstaunliche Entwicklung eines Kinds der
       linksrheinischen Provinz, das im frühen Exil eine Entwicklung vom
       Radikaldemokraten zu einem kommunistischen Aufklärer durchmacht. Neffe
       gelingt es, die theoretisch einmalige Synthese aus französischem
       Idealismus, deutschem Idealismus und englischer Nationalökonomie bei Marx
       herauszuarbeiten.
       
       Marx als lebendige Person wird in theoretischem Glanz und in praktischem
       Elend gezeigt. Das lebenslange Londoner Exil nach der gescheiterten
       Revolution mit aller häuslichen Armut, der unsäglichen Krankengeschichte
       und Beschränktheit der Verhältnisse wird ebenso vor Augen geführt wie Marx’
       schreckliche Parteienkämpfe, Intrigen und Eifersüchteleien. Als Gegner oder
       gar als Feind möchte man Marx nicht gehabt haben.
       
       Neffe hat aber auch ein Auge auf Marx’ vormärzliche Gefährten, auf Moses
       Hess und Heinrich Heine, auf seine späteren Rivalen Lassalle und Bakunin.
       Der Lebensgefährtin Jenny, die weit mehr gewesen ist als treu sorgende
       Hausfrau und Mutter, und dem lebenslangen Freund Friedrich Engels, der Marx
       nicht nur aus ökonomischen Bedrängnissen rettete, wird die Bedeutung
       zuteil, die sie für das Entstehen des großen Werkes haben, durch das Marx
       bis heute weiterlebt. Neffe nutzt alles, was ihm zur Verfügung steht – vor
       allem die brisante Korrespondenz, die leider schon von Marx’ nächster
       Umgebung gefleddert worden ist. Die Nachwelt wird niemals alles wissen.
       Umso mehr kommt es auf das historische Gespür an.
       
       Indem Neffe Marx als einen „Unvollendeten“ begreift, gelingt ihm ein
       besonderer schriftstellerischer Schachzug. Das zentrale Werk, „Das
       Kapital“, wird nicht in den Bücherschrank gestellt und
       wissenschaftsgeschichtlich angestrahlt. Neffe lässt Marx’
       kapitalismuskritische Argumente in den Problemen der Gegenwart weiterleben.
       Neffe scheut sich nicht, aktuellste Fragen der Globalisierung mit Marx’
       Einsichten in die kapitalistische Produktionsweise zu konfrontieren. Der
       Griff zu Marx’ „Kapital“ vertieft auf diese Weise den Blick auf die
       Probleme, die auf der Hand liegen – die Herrschaft der toten über die
       lebendige Arbeit, die Verwissenschaftlichung der Produktion und die
       Verselbstständigung des Finanzkapitals, die Konzentration von Macht und
       Reichtum, die inzwischen die entwickeltsten Demokratien bedroht, die
       Beherrschung von Politik und Kultur durch die Ökonomie, die selbst die
       Fantasien von krudesten Vulgärmarxisten übertrifft.
       
       Dem Biografen Neffe gelingt es vorzüglich, in einem Lebenswerk aus dem 19.
       Jahrhundert die Funken zu schlagen, die das 21. erhellen.
       
       5 May 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Detlev Claussen
       
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