# taz.de -- Die Wahrheit: Tod aus der Flasche
       
       > Es ist wieder einmal die pure Apokalypse – das alljährliche
       > „Baumblütenfest“ im brandenburgischen Werder an der Havel.
       
 (IMG) Bild: Werder wie acht Flaschen leer
       
       Die besinnungslose Selbstzerstörung hat einen Namen: das „Baumblütenfest“
       in Werder an der Havel. Zu dem sogenannten Volksfest, das stets rund um den
       1. Mai in dem brandenburgischen Obstanbauflecken stattfindet, setzt die
       Bahn eigens Entlastungszüge für Berliner Boozer ein, denen mit Entzügen
       doch weit mehr geholfen wäre.
       
       Der Stoff, aus dem die Albträume sind – aus saurem Obst gegorener
       Nagellackentferner –, ist neben Spargel und dem Sondermüll der Roten Armee
       eines der wenigen Produkte, die sich der karge märkische Sand von den
       Bewohnern abringen lässt. Wo überhaupt deren Gewissen bleibt, fragt man
       sich angesichts des teuflischen Grinsens, unter dem sie aus Buden heraus
       die bevorzugten Marken „Tod aus der Flasche“, „Migräne-Star“ und
       „Tollkirsche“ an die Süchtigen verkaufen.
       
       Man sollte denken, selbst ein Meerschweinchen wäre fähig, aus so
       entsetzlichen und eindrücklichen Extremerfahrungen zu lernen, und doch ist
       es jedes Jahr dasselbe: Am Tag danach erwachen die armen Idioten in Berlin
       auf einer Verkehrsinsel vor dem Bahnhof in einer Lache Erbrochenem, ob
       eigenem oder fremdem, ist so unklar wie zweitrangig. Der Kopf will schier
       zerspringen vor Schmerz; oft brennen auch die wunden, bizarr verklebten,
       verbogenen und verschmutzten Geschlechtsteile vom leider nicht mehr
       erinnerlichen Intimkontakt mit anderen Ausflüglern, Tieren oder Obstbäumen.
       
       ## Ein Teppich aus verfallenen Rückfahrkarten
       
       Und das sind noch diejenigen, die das Glück hatten, einen der letzten Züge
       zurück in die große Stadt erwischt zu haben. Die Übrigen bleiben für immer
       dort. Die einen treiben als derart dichter Teppich aus aufgedunsenen
       Kadavern, Fuselölen und verfallenen Rückfahrkarten in der Havel, dass man,
       ohne die Brücke zu benutzen, trockenen Fußes auf die Altstadtinsel gelangen
       könnte. Andere werden einfach in die Reihen der Apfelbäume gepflanzt. Sie
       haben somit die Seiten gewechselt, denn im nächsten Jahr sind sie es, gegen
       deren knochigen Stamm die betrunkenen Besucher pinkeln werden.
       
       Die meisten aber enden wie in Indien auf Trip hängen gebliebene
       Bürgerkinder; unkontrolliert sabbernd, eingekotet und mit tiefliegenden
       Augen in den eingefallenen Gesichtern betteln sie nackt oder in Lumpen vor
       den Souvenirläden des malerischen Havelstädtchens. Für den kurzen Rest
       ihres Lebens werden sie sich ausschließlich von der toxischen Tunke
       ernähren. Zuweilen huscht vermeintlich eine Art Erkennen über die Züge der
       Elendsgestalten und sie sondern wirre Worte ab wie „RE1“, „Rückfahrt“,
       „Ostbahnhof“ oder „nach Hause telefonieren“. Aber das ist nur ein letzter
       neuronaler Reflex der vom Gift zerstörten und fehlgeschalteten Synapsen,
       ehe die Freaks wieder komplett in sich zusammensacken. Was tatsächlich in
       ihrem verdüsterten Resthirn vor sich geht, kann man sich nicht vorstellen
       und möchte es auch nicht.
       
       ## Abgesang auf die Zivilisation
       
       Doch das Glück derer, die es noch in den letzten Regionalzug schaffen, ist
       das Pech der normalen Passagiere, die bereits drin sitzen. Aus Richtung
       Magdeburg kommend, erblicken sie schon Kilometer vor der Ankunft in Werder
       bang den gespenstischen Widerschein der in der Ferne brennenden Kirchen und
       Obstweinschenken, hören das kojotengleiche Geheul der Ausflügler auf ihrem
       Rückweg hin zum Bahnhof – ein finaler Abgesang auf den Begriff der
       Zivilisation, seine Zukunft und seine Vergangenheit.
       
       In der Gegenwart steht eine Hundertschaft der Bundespolizei in Kampfmontur
       bereit, die die unablässig nachdrängende Horde davon abhalten soll, vom
       Bahnsteig hinunter ins Gleisbett zu fallen. Nicht, dass das irgendein
       Verlust für die Gesellschaft wäre, ganz im Gegenteil. Zwar sollte man
       gerade angesichts unserer Geschichte wirklich wahnsinnig vorsichtig mit
       solchen Urteilen sein, aber: Das sind beim besten Willen keine Menschen
       mehr, so schlimm das klingt, so bedauerlich es ist und so fest man sich im
       Glauben an das Gute auch wünschte, dass es anders wäre.
       
       ## Sturz der rebellierenden Engel
       
       Doch der Zug könnte wegen der sich auf den Schienen stapelnden
       Schnapsleichen nicht weiterfahren und die Beamten sind nun mal von Rechts
       wegen angehalten, für den störungsfreien Ablauf des Bahnverkehrs zu sorgen.
       So sehr der Einzelne das persönlich auch bedauern mag.
       
       Und schon erstürmt das Pack die Waggons wie marodierende Landsknechte im
       Dreißigjährigen Krieg. Geschrei, Schlägereien, Gestank, unkontrolliertes
       Erbrechen und Urinieren – als Pieter Bruegel der Ältere seinen
       apokalyptischen „Sturz der rebellierenden Engel“ malte, muss er während des
       Baumblütenfests mit der Regionalbahn RE1 gefahren sein.
       
       4 May 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Uli Hannemann
       
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