# taz.de -- Ach verrückt nach Schreiben!
       
       > Friederike Mayröcker sagt von sich, sie habe eine „Küken-Sensibilität“,
       > und sie träumt davon, noch einmal in Engelszungen zu reden. „Pathos und
       > Schwalbe“, ihr neues Buch, ist voller Einfälle und Schreiblust
       
 (IMG) Bild: Sich dem ordnenden Diskurs entziehen: Friederike Mayröcker in ihrer Schreibkammer
       
       Von Eberhard Geisler
       
       Im Sommer 2015 musste die mittlerweile 93-jährige österreichische Dichterin
       Friederike Mayröcker mehrere Wochen im Krankenhaus zubringen, konnte in der
       ungewohnten Umgebung nicht mehr schreiben, sondern nur notdürftig kritzeln,
       und stellte, endlich in ihre Wiener Dachzimmer mit den vielen Zetteln
       zurückgekehrt, in alter Frische ein weiteres Buch fertig, das jetzt unter
       dem Titel „Pathos und Schwalbe“ erschienen ist.
       
       Abgesehen von den Verweisen auf ihre akuten körperlichen Gebrechen, auf die
       ständigen Visiten der Ärzte und die vorsichtigen Spaziergänge im Garten der
       Klinik begegnet man hier der Friederike Mayröcker, wie man sie kennen kann,
       wenn man ihr Werk verfolgt hat, oder auch wie man sie für sich entdecken
       kann, wenn man es bislang versäumte. Sie ist die große Vertreterin der
       literarischen Avantgarde, die sich die Einsicht zu eigen gemacht hat, dass
       objektive Wahrheiten nicht mehr zu erreichen sind, und diese Einsicht nun
       sprachliche Form werden lässt.
       
       Der Satz im traditionellen Sinn mit seinem Anspruch auf sichere
       Urteilsfindung wird durch verschiedene Techniken aufgesprengt. Der normale
       Sprachfluss wird durch Synkopen – unerwartete Kommata – unterbrochen, die
       bequeme Gewissheiten verhindern und infrage stellen. Bereits der Titel des
       Buchs stellt Rhetorik (Pathos) und Natur (Schwalbe) unvermittelt
       nebeneinander, um zu signalisieren, dass die Dichtung Phänomenen auf der
       Spur ist, die sich dem ordnenden Diskurs entziehen. Schließlich weiß die
       Autorin um die große Bedeutung des Unbewussten. Sie verfährt in ihren
       Texten „selbst denkend ich meine träumerisch“. Das Ich wird paradoxerweise
       dann autonom, wenn es die Kontrolle durch das Bewusstsein aufgibt.
       
       Neben diesem Bekenntnis zur Avantgarde hat die Mayröcker aber immer auch an
       der Idee von Schönheit und Poesie festgehalten. Ihr gelingen auch hier auf
       Schritt und Tritt herrliche Formulierungen, etwa wenn sie ihre Sprachlust
       zum Ausdruck bringt, indem sie kreatürliche Sinnlichkeit und selbstbewusste
       Distanznahme zu erkennen gibt.
       
       Man sieht pralle, kindlich schmollende Lippen vor sich: „nächstes Buch soll
       die Umnachtung heiszen, nämlich die Schnute“. Mit Blick auf die ihr eigene
       empfindliche Sensibilität sagt sie ungemein plastisch, sie habe
       „Küken-Sensibilität“, oder ihr fallen, stets aufmerksam für den inneren
       Sprachstrom, Formulierungen ein wie „Gottes Gewimmel in meiner Behausung“
       oder „das bittende blau eines Vergiszmeinnichts“.
       
       ## Verwunderung, Staunen
       
       Der Leser, die Leserin ist aufgefordert, all diese wunderbaren Bilder und
       Einfälle gedanklich weiterzuentwickeln und auszudeuten. Mit ihrem Sinn für
       das Poetische setzt sie, wie gehabt, einzelne Wörter in Großbuchstaben, um
       durch besonderen Nachdruck auch im Leser Verwunderung und Staunen über Wort
       und Gegenstand zu erzeugen. Gegen die hochtechnisierte Welt der Gegenwart
       gewandt, fordert sie in diesem Sinn zu einer Rückbesinnung auf die Natur
       auf, ganz als sei Wichtiges mittlerweile vergessen worden: „Da war doch
       etwas mit KIRSCHEN“.
       
       Auch das beständige Namedropping kennt man von dieser Autorin. Sie hat, man
       weiß es, einen hervorragenden literarischen Geschmack, kennt neben den
       deutschen Klassikern auch Christine Lavant, Francis Ponge und natürlich
       Samuel Beckett. Sie hört Bach, Rameau und Schubert, betrachtet Bilder von
       Gerhard Richter und würde gern schreiend schreiben, wie Francis Bacon
       gemalt hat. Sie schmust verbal mit dem viel jüngeren Autor Marcel Beyer,
       der sie einmal besucht hat, und hat sogar die interessanten Notizbücher von
       Anselm Kiefer ausfindig gemacht.
       
       Allerdings muss man sagen, dass an keiner Stelle eine nähere gedankliche
       Auseinandersetzung mit all diesen Größen stattfindet. Einzige Ausnahme ist
       der Philosoph Jacques Derrida, der ja ihr Hausgott ist und von dem sie
       wichtige Denkfiguren und Verfahrensweisen übernommen hat. Ihr großer Wunsch
       ist, „dasz zu jeder Stunde sprieszet das tiefere Denken“. Dem ist sie auf
       der Spur, dazu regt sie an.
       
       Bemerkenswert ist, dass Friederike Mayröcker sich verschiedentlich gegen
       das Genre des Tagebuchs ausspricht. Sie lehnt dessen Beiläufigkeit ab.
       Aber, nur ein Beispiel: Gilt das beiläufig verfasste Journal von André Gide
       nicht längst als dessen eigentliches Vermächtnis?
       
       Die Dichterin verfolgt noch eine traditionelle Vorstellung vom
       literarischen Werk. Es soll eben nicht beiläufig verfertigt werden; nach
       dem Verlust der Mitte soll das Kunstschaffen noch immer etwas wie ein
       Zentrum darstellen und als solches rezipiert werden. Durch diesen Anspruch
       gewinnt ihr Werk etwas Altmodisches, dem aber keineswegs etwas Altbackenes
       anhaftet, sondern das sich längst genießen lässt. Die Vergangenheit darf
       getrost zitiert werden, und auch die archaisierende Orthografie, die die
       Autorin gelegentlich verwendet, macht diese Sehnsucht nach geistig
       bedeutsamen Rückgriffen augenfällig. „Eigentlich möchte ich meine ZIERDE
       immerzu niederschreiben“, sagt sie und träumt noch einmal davon, in
       Engelszungen zu reden.
       
       Diese Texte mit ihren Synkopen klingen wie Jazz. Sie bezeugen den
       historischen Augenblick, der für ihre Ideen und Strukturen von maßgeblichem
       Einfluss war – die Mitte des 20. Jahrhunderts. Vielleicht mag der eine oder
       andere darin bereits eine leichte Patina erkennen, die sich über sie legt,
       aber Friederike Mayröcker weiß in der eilenden Zeit noch immer, ihre Leser
       aufzurütteln und an die Möglichkeit großer Poesie zu gemahnen.
       
       31 Mar 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Eberhard Geisler
       
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