# taz.de -- Debatte Islam in Europa: Deutschland ist ohne Islam undenkbar
       
       > Muslime haben durch Ideen- und Technologietransfer wesentlich am Aufstieg
       > Europas mitgewirkt. Das wird aber meist unter den Tisch gekehrt.
       
 (IMG) Bild: Wegweisend. Auch der Kompass ist arabisch-islamischen Ursprungs
       
       Der Okzident hat seine sogenannten Werte und Leistungen keineswegs allein
       und in genialer Isolation erarbeitet, sondern hat den Orient geistig und
       kulturell ausgebeutet und aufgesogen, was brauchbar schien. Ohne die
       intellektuellen Leistungen von Muslimen würden wir weder bequem wohnen,
       noch könnten wir effizient rechnen. Im Laufe von 13 Jahrhunderten
       hinterließen Araber, Perser und Türken in Europa nicht nur ihr Genmaterial,
       sondern auch ihr Gedankengut. Ein Deutschland ohne Islam ist undenkbar.
       
       Schon Anfang des 8. Jahrhunderts fassten Muslime in Europa Fuß, Teile
       Spaniens regierten sie 700 Jahre lang. Portugal, Sardinien, Sizilien und
       Süditalien verweisen auf kürzere islamische Epochen und Intermezzi. An den
       Umschlagplätzen für Wissen – in Bagdad, das im 8. Jahrhundert zur damaligen
       Welthauptstadt aufstieg, aber auch in Córdoba, Sevilla und Toledo – wurden
       die Werke der griechischen Philosophen, Platon und insbesondere
       Aristoteles, gelesen, rezipiert und übersetzt.
       
       Während das westliche Mittelalter heute noch manchmal mit der
       klischeehaften Beifügung finster versehen wird, ist im arabisch-persischen
       Kontext gern vom „goldenen Mittelalter“ die Rede. Islamische Zivilisation
       rettete das Erbe der Antike durch mehrere Jahrhunderte, in denen es im
       christlichen Teil Europas dem Vergessen anheimfiel.
       
       Unbestritten ist auch der Beitrag islamischer Forscher, etwa von Ibn Sina
       (lat. Avicenna), dessen Werk, ins Lateinische übersetzt („Canon
       medicinae“), jahrhundertelang den medizinischen Standard in Europa bildete.
       Und es war ein Muslim, durch dessen Vermittlung Aristoteles schließlich
       wieder zu Anerkennung gelangte: Ibn Ruschd (lat. Averroes). Er entwirrte
       die Widersprüche zwischen Glauben und logischem Denken.
       
       ## Unterscheidung zwischen Glaube und Vernunft
       
       Im Hochmittelalter schuf er die Basis für die Unterscheidung zwischen
       Glaube und Vernunft, zwischen Religion und Wissenschaft. Als Thomas von
       Aquin um 1224 geboren wurde, der diese Leistung für das Christentum
       erbrachte, war Ibn Ruschd schon ein Vierteljahrhundert tot. Er gehört damit
       zu jenen Denkern des Hochmittelalters, die die geistigen Voraussetzungen
       für forschendes Erkennen und damit das ideengeschichtliche Fundament
       Europas schufen.
       
       Im selben Jahrhundert, als im Westen im Rahmen der Reconquista Muslime
       dauerhaft aus Spanien vertrieben wurden (1492 Fall von Granada), konnten
       sie sich im Osten dauerhaft festsetzen: Unter osmanischer Herrschaft wurde
       Konstantinopel erobert (1453) und damit das christlich-byzantinische Reich.
       So stieg das Imperium zur Weltmacht auf, das sich in Ost- und Südeuropa
       schon lange behauptete. Seit dem 14. Jahrhundert waren Muslime auf der
       Balkanhalbinsel beheimatet, sie bildete das Kerngebiet des Osmanischen
       Reichs.
       
       Die Nähe zwischen Europa, Nordafrika und Westasien belegen auch allerhand
       Ausdrücke im Deutschen, Wörter mit arabischem Migrationshintergrund, die –
       nebenbei bemerkt – häufig (aber nicht immer) etwas mit Lebensqualität und
       Lebenskunst zu tun haben: Alkohol, Artischocke, Haschisch, Karaffe,
       Magazin, Mokka, Rabatt, Schachmatt, Safran, Sorbet, Tarif, Tamarinde,
       Zucker. Die Liste lässt sich in diverse Wissenschaften hinein ziemlich
       verlängern, ebenso in anderen europäischen Sprachen.
       
       Allerhand Köstlichkeiten sind aus dem Osten eingewandert, Kaffee und
       Hörnchen sind nur die bekanntesten, und allerhand Bequemlichkeiten in den
       Wohnungseinrichtungen – Diwan, Sofa, Matratze, Ottomane, Baldachin sind
       Wörter persischen, arabischen oder türkischen Ursprungs.
       
       Im Frühmittelalter brachten Muslime via Nordafrika die textile Technik des
       Knüpfens nach Spanien, in Córdoba entfaltete sich das Gewerbe. Und erst die
       geknüpften Fußbodenbedeckungen und Wandbehänge, die die Kreuzfahrer
       einführten, machten die zugigen Burgen im Hochmittelalter wohnlich. Durch
       die gleichen Kanäle wurden arabisch-islamische Musikkultur und Musiktheorie
       samt Instrumenten importiert und schufen neue Klangereignisse. Das
       WortLautestammt vom arabischen al-’ud.
       
       ## Schneller rechnen mit arabischen Ziffern
       
       Und die Ziffern, mit denen wir rechnen, sind arabisch (arab. as-sifr =
       Null). Araber brachten das Dezimalsystem samt den indischen Ziffern
       vermutlich im 10. Jahrhundert nach Spanien. Dort erhielten sie allmählich
       die heute gebräuchliche Form, doch nur langsam verdrängten sie die bis
       dahin verwendete römische Zahlschrift. Die katholische Kirche stand ihnen
       zunächst ablehnend gegenüber, aber Kaufleute stellten fest, dass sich mit
       ihnen schneller rechnen lässt, und das Rechenbuch von Adam Ries (fälschlich
       Riese), das 1550 erschien, enthält die uns bekannten typografischen
       Zeichen.
       
       Jedenfalls liegt im Abendland ein Gutteil Morgenland als verheimlichtes
       Substrat verborgen. Durch die Jahrhunderte fand ein Technologietransfer in
       den Westen statt, Erfindungen in der Physik und der Chemie, Papier,
       Kompass, Lupe und andere Behelfe gegen menschliche Unzulänglichkeiten sind
       arabisch-islamischen Ursprungs oder gelangten von China und Indien durch
       arabisch-islamische Vermittlung nach Europa.
       
       Das alles ist nichts Neues. „Orient und Okzident sind nicht mehr zu
       trennen“, schrieb Goethe in „West-östlicher Divan“, erschienen 1819.
       Niemand ist gegen Orient in der Küche, Orient in der Musik, und Bauchtanz
       bereichert nicht nur die Schlafzimmer, sondern stärkt auch die
       Rückenmuskeln.
       
       Es mag im Einzelnen unter Historikern umstritten sein, wie ansehnlich die
       arabisch-persisch-türkisch-islamische Zufuhr von Geistes- und
       Sachleistungen zu den westlichen Zivilisationen tatsächlich ist. Aber
       gewiss ist, dass diese Importe gern unter den Tisch gekehrt werden und auch
       in den Schulbüchern nicht den Stellenwert einnehmen, der ihnen gebührt.
       Gewiss ist auch, dass Europa ohne Islam und Muslime und ohne den
       Wissenstransfer aus islamischen Gebieten nicht das wäre, was es heute ist.
       
       27 Mar 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ingrid Thurner
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Islam
 (DIR) Kulturgeschichte
 (DIR) Muslime
 (DIR) Orient
 (DIR) Lesestück Meinung und Analyse
 (DIR) Islam
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Kampfvokabeln & Stereotypien: Wer hat Angst vor dem Islam?
       
       Der Islam ist nicht nur eine Religion. Er verkörpert das Andere, vor dem
       Angst zu haben, die eigene Identität stabilisiert.