# taz.de -- Ismail Ismail Im Augenblick: Einkaufen, bis das große Glück kommt
       
       Während ich mit einer Bekannten über Kapitalismus diskutierte, fragte sie
       nach dem Anlass, warum ich mich für dieses Thema interessiere. Erst dann
       habe ich bewusst darüber nachgedacht und dabei an unseren Lebensstil in der
       Familie und auch allgemein in der Stadt Qamishly, wo ich aufgewachsen bin,
       gedacht.
       
       Als ich ein Grundschulkind war, hatte ich zum Beispiel nur einen Bleistift.
       Danach, in der vierten Klasse, war es obligatorisch, einen roten und einen
       blauen Kugelschreiber zu haben. Gerade deswegen wurden mir nur die
       genannten Stifte gekauft, und danach wurden mir erst dann neue gekauft,
       wenn die alten leer oder kaputt waren. In dem Viertel, wo ich wohnte, gab
       es vier Minimärkte, die in allem bis auf den Namen ähnlich waren und nur
       ein paar Meter voneinander entfernt waren. Es waren 20-Quadratmeter-Läden,
       die all die Produkte, die unser Viertel brauchte, hatten.
       
       In solchen Läden funktionierte das Prinzip „Einkaufen“ nicht so gut. Mensch
       fragte den Verkäufer oder die Verkäuferin nach dem, was benötigt wurde. Das
       wurde dann auch besorgt. Das Bedürfnis einzukaufen war da nicht groß, weil
       jeder Haushalt jährlich einen Vorrat von häufig gebrauchten Lebensmittel
       anlegt. So wurde eine Menge Weizenprodukte angefertigt, die eine Familie
       ein Jahr benötigt. Darüber hinaus wurden, ebenfalls für den
       Jahresverbrauch, Fett und Tomatensoße, Oliven und verschiedene Marmeladen
       und viele andere Sachen gemeinsam mit anderen Familien vorbereitet.
       
       Nachdem ich in Deutschland ankam, bin ich zum ersten Mal bei einem großen
       Supermarkt in Lüneburg einkaufen gegangen. Den Käse konnte Mensch in etwa
       20 Sorten finden: irischen Cheddar, Leerdamer-Caractère, Frischkäse
       Halbfettstufe und Doppelrahmstufe, verschiedene Back-Käse, griechischer
       Schafskäse und so weiter. Das Fleisch gab es in unzähligen
       Zubereitungsarten. Je nach Lust und Laune, was eine Person in sich
       hineinstopfen möchte.
       
       Für die Fingernägel standen nicht nur eine Schere, sondern auch ein Gerät
       für deren Begradigung, ein anderes für die seitliche Reinigung und ein
       weiteres zum Feilen zum Verkauf. Und auch wenn die Füße pflegebedürftig
       sind, gibt es dafür Dutzende Mittel und Geräte. Selbst Kartoffeln konnten
       in sechs oder sieben Sorten gefunden werden. Ehrlich gesagt, ich kannte
       vorher nur zwei Sorten an Kartoffeln: Die „normalen“ und manche nannte
       meine Mutter die „süßen“ Kartoffeln.
       
       Allerdings bin ich an diesem Tag stundenlang durch diesen Supermarkt hin
       und her gelaufen, ohne viel einzukaufen. Ich war überrascht, was Mensch
       alles an einem Ort kaufen kann.
       
       Drei Jahre vergingen bis zu meinem Gespräch mit der Bekannten, in dem sie
       mir diese Frage gestellt hat: aus welchem Anlass ich über Kapitalismus in
       unserer Gesellschaft nachdenke. Mittlerweile habe ich so viele Stifte, dass
       sie kaum in zwei Federtaschen hineinpassen. Daneben besitze ich so viele
       Schreibblöcke, die ich in Seminaren mit den Stiften bekommen habe, dass ich
       die nächsten zwei Jahre keine kaufen muss. Inzwischen kann ich auch
       Gerichte zubereiten, die ich mit drei Sorten Käse und zwei Sorten
       Kartoffeln kochen könnte.
       
       Glücklich bin ich damit nicht, denn ich befinde mich in einer Gesellschaft,
       wo alles sich um den Konsum dreht. Täglich sieht jede Person Tausende
       Werbungen, in der U-Bahn, auf der Straße, im Fernseher, im Internet,
       mittlerweile können die Leser_innen manche Zeitschriften online nicht mehr
       lesen, wenn der Ad-Blocker nicht deaktiviert ist, oder sie wird nach Hause
       geschickt. Alle wollen, dass du einkaufst, unabhängig davon, ob du die
       Sachen brauchst. Meistens brauchst du diese eher nicht, aber du kaufst sie
       ein.
       
       Diejenigen, die sich gegen dieses System stellen und versuchen, so wenig
       wie möglich Müll zu produzieren, werden als Hippies bezeichnet und so
       werden ihre Aktionen entleert oder irrelevant gemacht. Auf der anderen
       Seite sind fast alle mit der Massenhysterie des Weihnachtsgeschenkekaufens
       froh. Solche und ähnliche Anlässe sorgen dafür, dass wir neben unserer
       Rolle als Studenten, Bäckerin, Verkäufer oder Ärztin auch Konsumenten sind.
       Meiner Befürchtung nach ist Konsumentendasein die wichtigste
       gesellschaftliche Rolle in so einem System.
       
       9 Mar 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ismail Ismail
       
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