# taz.de -- Aleksandar Zivanovich Ausgehen und rumstehen: Einer klatscht immer. Egal wer singt. Egal was kommt
       
       Sailor, wo bist du?“, spricht ein Grauhaariger in ein Schnurlos-Mikro. Wir
       sitzen am Tresen in der Eckkneipe „Boddin-Eck“, es ist Freitagabend,
       Karaoke-Night. „Sailor, komm her, du bist dran!“ Ein paar Sekunden später
       erscheint ein hagerer Typ aus dem hinteren Teil der Kneipe, wo sie Billard
       spielen. Er holt sich vorne beim Karaoke-Chef das Mikro ab, auf dem
       Bildschirm erscheint das nächste Lied: „Are You Lonesome Tonight“ in der
       Elvis-Version.
       
       Sailor ist mittelgroß, vermutlich 50, mit schwarzgrau-zerzaustem Haar, er
       trägt schwarze Lederhosen, Stiefel, ein graues Hemd, einen langen grünen
       Parka, im Gesicht ist er tätowiert und auch am Hals. Zaghaft bewegt er sich
       zum Takt dieser traurigen Ballade, den Text kennt er sehr gut, selten
       blickt er auf den Bildschirm. Er singt fantastisch. Immer, wenn die
       Akkordabfolge dramatisch ins Schnulzige abgleitet, zieht er sehr passend
       dazu die Augenbrauen und den linken Mundwinkel nach oben, erst dann kann
       man erkennen, dass ihm sämtliche Schneidezähne fehlen. Als er fertig ist,
       klatschen alle, etwa 30 Menschen, junge und alte. Er lacht und bedankt
       sich.
       
       ## Sailor kauft eine Rose
       
       „So, und jetzt kommen wir zu einem wirklich sehr, sehr tollen Lied … Wo ist
       Susi?“, fragt der Karaoke-Chef. Er hat das Mikro wieder übernommen. Susi
       ist schon ein wenig betrunken, sie singt „Stimmen im Wind“ von Juliane
       Werding, Applaus, Applaus. Dann wählt eine andere ein Lied von den Böhsen
       Onkelz. Ein Gast am Tresen erklärt seinem Sitznachbarn auf Englisch, dass
       das die wohl berühmteste Nazi-Skinhead-Band Deutschlands sei, sie bestellen
       Schnaps.
       
       Nach dem Lied klatscht nur einer, und zwar derjenige, der immer klatscht,
       egal was kommt, egal wer singt. Er ist betrunken und hält sich am Tresen
       fest, oft singt er laut „La, la, la“ und sucht dabei Augenkontakt mit
       anderen. Der immer liebevoll dreinschauende Blumenverkäufer aus Bangladesch
       kommt herein, Sailor kauft ihm eine rote Rose ab und verschwindet wieder im
       Hinterzimmer. Neben uns drängen sich Neuankömmlinge, eine Gruppe
       Mitte-40-Jähriger. Sie reden über „Learnings“ und Social Media. Eine Frau
       singt Tina Turner wie Tina Turner. Es wird nun sehr eng, wir gehen nach
       Hause.
       
       Am Samstagabend wollen wir auf eine Veranstaltung des CTM-Festivals ins
       Yaam, aber der Türsteher lässt uns nicht rein. Er sagt: „Ausverkauft! Wenn
       ihr keine Karten habt, kann ich euch nicht durchlassen“, was logisch
       klingt, wir aber nehmen ihm das nicht ab und sind wütend.
       
       ## Das Objektiv am Unkraut
       
       Am Sonntag scheint die Sonne, der Himmel ist blau, wir fahren mit dem Auto
       zum BER. Sonntagsspaziergang. Auf dem Vorplatz des Hauptgebäudes dieses
       Flughafens, der irgendwann vermutlich eröffnet wird, macht eine Familie
       Picknick, zwei kleine Kinder üben Radfahren mit Helm. Weiter vorne an der
       Abflug-Halle liegt ein Mann flach ausgestreckt auf dem Boden. Es ist ein
       Fotograf mit Profiausrüstung, ganz dicht ist er mit dem Objektiv am
       Unkraut, das hier überall zwischen den Steinplatten hervorsprießt, im
       Hintergrund: der Haupteingang des BER. Ein Pärchen sitzt auf einer Bank und
       knutscht.
       
       Dann machen wir uns auf den Weg zur einzigen Flughafen-Tankstelle. Hier
       machen sie alle Halt: die Security-Mitarbeiter, die Feuerwehrleute und
       Polizisten, die hier stationiert sind, die Touristen, die sich die
       Baustelle anschauen, und auch eine Gruppe von vier etwa 20-Jährigen, die
       ihre aufgetunten Autos gewaschen haben und nun eine Redbull-Pause einlegen.
       Bevor sie abfahren, warnen sie uns, „nicht erschrecken, kann laut werden“,
       die Motoren heulen auf, weg sind sie.
       
       In der Tankstelle ist alles sehr aufgeräumt, die Capri-Sonne-Packungen
       stehen da wie Soldaten. So, als hätte sie noch niemand jemals angerührt.
       
       6 Feb 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Aleksandar Zivanovic
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA