# taz.de -- Gastlichkeit
       
       Martin Betz 
       
       Ich wohne in Berlin. Es gibt andere Städte, auch dort wird gewohnt. Ob
       einer in Berlin wohnt oder woanders, macht keinen großen Unterschied. Nur
       einen kleinen.
       
       Wer in Berlin wohnt, hält sich meist in Berlin auf. Wer woanders wohnt,
       hält sich meist in Berlin auf. Wer woanders wohnt, findet Berlin geil und
       kommt ständig zu Besuch. ’nen großen Unterschied macht das nicht, nur einen
       kleinen. Wer in Berlin wohnt, findet’s hier weniger geil. Ständig hat er
       Besuch.
       
       Wer in Berlin wohnt, bekommt gar nicht mit, was in der Stadt vorgeht. Er
       ist zu Haus, die Diele wischen. Besuch hat sich angekündigt, da soll die
       Diele sauber sein.
       
       Nun erscheint die Person, die zu Besuch kommt. Sie ist naturverbunden.
       Genauer, die Natur ist mit ihr verbunden. Drum bringt die Person, die zu
       Besuch kommt, etwas mit aus der Heimat. Unten an den Schuhen.
       
       Leg doch ab!, sag ich zu der Person, die zu Besuch gekommen ist. Zu spät,
       ihre Schuhe haben bereits abgelegt. Dazu ist die Diele ja da.
       
       Am nächsten Tag ist die Person, die zu Besuch kam, aufgebrochen in die
       geile Stadt. Ich wische die Diele. Wer in Berlin wohnt, kriegt gar nichts
       mit von der Stadt. Die Person, die zu Besuch gekommen ist, kriegt einiges
       mit, unten an den Schuhen. Nun kehrt sie zurück. Wer in Berlin wohnt,
       verbringt viel Zeit in der Diele.
       
       Ich hab aufgeräumt. Das Nutellaglas, die Bratpfanne, der Gummibaum sind auf
       den Müll geflogen. Steril glänzt die Wohnung, man hätt eine
       Herztransplantation durchführen können – – in den Sekunden zwischen
       Putzwasser-Wegschütten und dem Eintreffen der Person, die zu Besuch ist.
       Nun ist sie da. Mein Herz träumt von Transplantation.
       
       Auf dem Schreibtisch finden sich ein unausgepackter Rucksack und ein
       ausgepackter, fünf Ansichtskarten, siebzehn Briefmarken, das kostenlose
       Faltblatt der Komischen Oper, ein halb entfalteter Stadtplan, eine Flasche
       Kontaktlinseneinlegemittel, das kostenlose Faltblatt vom Babylon-Kino
       Mitte, drei entfaltete Liniennetzpläne der Berliner Verkehrsbetriebe, ein
       Fotoapparat, drei Fantadosen, ein Opernglas, das kostenlose Faltblatt des
       Wachsfigurenkabinetts, siebenundzwanzig unausgepackte
       Menthol-Kräuterbonbons und drei ausgepackte. Auf dem Badewannenrand finden
       sich eine Tüte Schokokekse, die Süddeutsche Zeitung von vorgestern, drei
       halb entfaltete Liniennetzpläne der Berliner Verkehrsbetriebe, das
       kostenlose Faltblatt vom Bröhan-Museum und vierzehn Menthol-Kräuterbonbons.
       Auf dem Kissen befindet sich eine unausgepackte Tüte türkischer Kekse mit
       Marmelade, unter der Decke eine ausgepackte. Im Spülbecken befinden sich
       ein iPod, vier Fruchtzwerge, ein Organspenderausweis, das kostenlose
       Faltblatt vom Bröhan-Museum und zwei Menthol-Kräuterbonbons. Sie fallen
       kaum auf neben dem, was sich auf dem Küchentisch findet, auf dem
       Fensterbrett und auf dem Klavier.
       
       Die Person, die zu Besuch kam, ist bescheiden. Macht nichts, dass nicht
       aufgeräumt ist, sagt sie. Auch Luxus braucht sie keinen. Die Mentholbonbons
       ess ich nicht mehr, sagt sie. Alle für dich. Die Kekse auch.
       
       Wenn man zurückkehrt von etwas, was man geil findet, ist man müde. Die
       Person, die mich besucht, legt die Beine hoch. Träumerisch blickt sie zur
       Decke und sagt: Könnt man mal gemütlich machen, deine Wohnung. Sie fühlt
       sich wohl.
       
       Eine Katze, die sich wohlfühlt, schnurrt. Wer zu Besuch kommt und sich
       wohlfühlt, meckert. Wieso, sinniert die Person, die zu Besuch ist, hast du
       keine Bratpfanne? Nutella ist auch keins da! Einen Gummibaum wenigstens
       könntest du dir gönnen. Ihr sei unbegreiflich, wie ich mich in dieser
       Wohnung wohlfühlen könne, sagt die Person, die sich wohlfühlt.
       
       Anderntags, während ich Nutella und eine Bratpfanne besorge, erinnert sich
       die Person, die zu Besuch gekommen ist, an meine Vorliebe fürs Sterile. Als
       ich heimkomme, stell ich’s fest: Meine Lieblingssandalen, meine
       Lieblingsteekanne und meine Lieblingsdateien auf dem Computer hat sie
       weggeschmissen. Auch wenn man zu Besuch ist, kann man etwas Hausarbeit
       übernehmen, findet die Person, die zu Besuch ist.
       
       Eins kann sie nicht verstehen: dass jemand, der in einer so geilen Stadt
       wohnt, so viel zu Hause ist. Du kriegst ja gar nicht mit, was in der Stadt
       vorgeht!, mault sie. Und bringt die kostenlosen Faltblätter vom
       Liebermannhaus mit, vom Museum der DDR und von der erotischen Variéteshow
       im Flughafen Tempelhof. Alles für mich! Die Person, die mich besucht, ist
       ja nur zu Besuch und hat nicht die Zeit, alles zu besichtigen. Aber ich,
       ich wohne ja hier!
       
       Gleich, nachdem die Person, die mich besucht hat, abgereist ist, ruft sie
       mich an. Ihr Opernglas hat sie liegenlassen bei mir, ihre
       Mundspülungslösung und die Ansichtskarten. Ob ich ein Paket schicken könne?
       Ich schicke ein Paket. Leider schafft es die Person, die mich besucht hat,
       nimmer, das Paket entgegenzunehmen. Ihr Zug geht, sie kommt Berlin
       besuchen!
       
       Wochen später merke ich, die Person, die mich besucht, hat wieder was
       liegenlassen. Haare, ihre rechte Hand, ihr linkes Bein und noch einiges
       mehr. Ich stelle fest: Die Person, die mich besucht hat, ist gar nicht
       abgereist!
       
       Fünf Jahre später, gerade hab ich das Wischen der Diele beendet, tret ich
       ins Zimmer, wo die Person, die zu Besuch kam, träumerisch zur Decke blickt
       und an ihrem Ehering dreht.
       
       Wie, sag ich, du bist verheiratet? Ja, sagt sie. Mit dir! Ah, sag ich
       überrascht. Seit dreieinhalb Jahren! sagt sie. Siehst du, sag ich. Ich
       bekomm gar nicht mit, was in der Stadt vorgeht.
       
       21 Dec 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Martin Betz
       
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