# taz.de -- Das Gewicht des 20. Jahrhunderts
       
       > Eine Symphonie der Kindheit: Die romanhaften Erinnerungen des ungarischen
       > Schriftstellers Péter Nádas
       
 (IMG) Bild: Ein verunglücktes Flugzeug auf dem Dach eines Wohnhauses in Budapest Ende 1944. Péter Nádas
       
       Von Tobias Schwartz
       
       Manchmal sind Bücher wie große, komplexe Musikkompositionen. Gustav Mahler
       sagte einmal, er wolle Werke schaffen, in denen sich die ganze Welt in all
       ihrer Weite, Tiefe und Schwere spiegele. Darunter machte er es nicht und
       entsprechend monumental und überwältigend gerieten seine Symphonien.
       
       In der Literatur der klassischen Moderne finden sich leicht Beispiele, die
       sich in Hinblick auf die Absolutheit von Anspruch und Form mit dem groß
       angelegten kompositorischen Schaffen Mahlers vergleichen ließen, das auch
       Ironie und Humor aufweist. Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ etwa,
       Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ oder auch noch
       Thomas Manns „Doktor Faustus“. In der Gegenwartsliteratur ist das schon
       schwieriger. Der ungarische Schriftsteller und Fotograf Péter Nádas aber,
       der seit Jahren als aussichtsreicher Anwärter auf den Literaturnobelpreis
       gehandelt wird, lässt sich ohne Weiteres neben Musil, Proust und Mann
       einreihen – genau gelesen hat er seine literarischen Vorväter jedenfalls
       alle.
       
       Erst 2012 erschien auf Deutsch sein rund 1.700 Seiten langer
       Monumentalroman „Parallelgeschichten“, eine abgründige, überwiegend in
       Budapest angesiedelte Familiengeschichte und gleichzeitig eine Art Abriss
       des europäischen 20. Jahrhunderts, vor allem der Schattenseiten jenes
       schicksalhaften Säkulums. 17 Jahre hatte Nádas daran gearbeitet. Jetzt
       folgen seine kaum weniger monumental ausfallenden Kindheitserinnerungen mit
       dem understatementhaften Titel „Aufleuchtende Details“, meisterhaft
       übersetzt von Christina Viragh, die schon die „Parallelgeschichten“
       preisgekrönt ins Deutsche übertragen hatte. Das Buch beginnt mit einem so
       lust- wie schmerzvollen Sonntagsessen des kleinen Péter bei seinen
       Großeltern und endet mit dem Ungarnaufstand von 1956, der auch in
       Nádas’„Buch der Erinnerung“ von 1986 eine zentrale Rolle spielt. Die knapp
       1.300 Seiten sind eine meist sturmumtoste, sich gelegentlich aber auch
       aufklärende Gebirgslandschaft mit Gipfeln und Tälern, erschütternd und
       bewegend wie eben Mahlers kolossale Symphonik.
       
       Kaum ein anderer Schriftsteller vermittelt seinen Lesern heute
       eindringlicher als Péter Nádas, wie schwer das 20. Jahrhundert auf seinen
       Schultern lastet. Wer sich mit seiner Biografie beschäftigt, bekommt eine
       Ahnung davon, warum das so ist. Geboren wurde Nádas mitten im Zweiten
       Weltkrieg, 1942 in Budapest. Als erste, prägende Erinnerung schildert er,
       wie er im Treppenhaus einen Bombenangriff alliierter Flieger erlebte – mit
       glimpflichem Ausgang. Da war er gerade zwei Jahre alt. In Ungarn folterten
       und mordeten die faschistischen Pfeilkreuzler. Juden wurden scharenweise
       deportiert, wenn sie sich nicht, wie Teile von Nádas’Familie, versteckten.
       
       Sein erinnertes Leben beginnt zur Zeit der deutschen Besatzung, der
       Kollaboration und des Verrats, der sowjetischen Belagerung und des
       Einmarschs der Roten Armee. Die in Trümmern liegenden Straßen und
       Häuserzüge der Donau-Metropole bilden die Kulisse seiner Kindheit. Seine
       jüdischen Eltern, die er zärtlich porträtiert, auch wenn er seine
       ambivalenten Gefühle ihnen gegenüber nicht verbirgt, waren als Kommunisten
       im Widerstand aktiv und verloren ihren unerschütterlichen Glauben an die
       Partei auch dann nicht, als sie von Intrigen der KP-Funktionäre beinahe
       zerrieben wurden. Noch vor Ausbruch der blutig niedergeschlagenen
       antisowjetischen Revolution von 1956 starb die Mutter an Krebs.
       
       Den Verlauf der Erkrankung beschreibt Nádas minutiös. Sein Vater nahm sich
       zwei Jahre später das Leben. Eigene Suizidgedanken manifestierten sich in
       dem Heranwachsenden: „In fast jeder Stunde, jedem Augenblick meines Lebens
       quälte ich mich mit der Frage, auf welche Art ich mich umbringen könnte“,
       heißt es etwa. „Es war eine Heimsuchung. Eine psychische Betriebsstörung.
       Gift einnehmen. Mich in die Tiefe stürzen. Mich erhängen. Irgendwo eine
       Waffe finden.“
       
       „Memoiren eines Erzählers“ hat Nádas sein Werk untertitelt, wobei schnell
       klar wird, dass die Betonung auf „Erzähler“ liegen muss. Mit Goethes
       „Dichtung und Wahrheit“ oder Rousseaus „Bekenntnissen“ hat das alles nur
       entfernt zu tun. Begriffe wie „Memoiren“, „Erinnerungen“ oder auch
       „Autobiografie“ werden dem unkonventionellen Buch nicht gerecht, das bei
       aller Länge kaum Längen birgt, sondern, im Gegenteil, von Anfang an
       vereinnahmt und mitreißt.
       
       Dabei erzählt Nádas, ein Modernist durch und durch, nicht linear oder
       chronologisch, sondern versucht, dem Wesen der Erinnerung gerecht zu
       werden, indem er deren Struktur imitiert. Es sind die „aufleuchtenden
       Details“, also fragmentarische Erinnerungsblitze, von denen ausgehend er
       assoziativ Welten, wenn auch größtenteils kaputte, wieder auferstehen
       lässt.
       
       Die Perspektive wandert vom Kleinen aufs Ganze, das Ergebnis könnte
       durchaus auch als Roman durchgehen. Der Detailreichtum, die
       Materialkenntnis, die vor dem Leser ausbreitet wird, übersteigt bei Weitem
       das, was zu erinnern einem Menschen möglich ist. Auch Geschehnisse, die
       weit vor dem Geburtsjahr 1942 liegen, kommen zur Sprache. Nachträglich
       Erfahrenes, Recherchiertes oder auch von Familienmitgliedern Memoriertes
       vervollkommnen das eigene Gedächtnis, das hier als ein totales erscheint –
       und den Leser förmlich in sich aufnimmt.
       
       „Und jedes Jetzt birgt ein Damals“, heißt es an einer Stelle in „Das Ende“,
       dem neuen, wunderbaren Roman von Nádas’Landsmann Attila Bartis. Darum geht
       es auch in „Aufleuchtende Details“: Um die freudianische oder auch
       nietzscheanische Frage, wie sich das eigene Ich historisch-psychologisch
       zusammensetzt – möglicherweise zusammensetzt, bleibt es doch immer eine
       Sache der Deutung und viel weniger des eigenen Erinnerns.
       
       Nádas’Schreiben trägt im Innern auch Züge der archäologischen und
       genealogischen Verfahrensweise Michel Foucaults, die nicht zufällig eine
       große Nähe zur Literatur aufweist. Wie in den „Parallelgeschichten“ rückt
       auch in den „Memoiren“ wieder das Körperliche in den Fokus, angefangen mit
       dem respekteinflößenden Großvater, „knochendürr, an seinem Brustkasten
       drückten sich die Rippen durch die Haut … noch heute spüre ich in den
       Gliedern seine Armknochen, seine Schlüsselbeine, seine scharfen Rippen.“
       Nádas zeigt plastisch, wie sich Geschichte in die Körper ihrer Subjekte
       einschreibt.
       
       Die Grundstimmung ist düster, voller Moll-Töne, das lässt sich nicht anders
       sagen. Es gibt Seiten des Zorns, nicht zuletzt ist das Buch eine Abrechnung
       mit dem kommunistischen Regime in Ungarn, das in so vielen Nádas-Werken
       Eingang gefunden hat. Erinnerungen an Verluste, an Hänseleien in der
       Schule, an eine den kleinen Péter ewig begleitende Angst stecken darin,
       aber auch solche an frühes Verliebtsein oder den schönen Traum, ein Tänzer
       zu werden.
       
       Lichtblicke wie diese, ironisch-heitere, humoristisch aufleuchtende Details
       sind es, die diesen filigran gewobenen, vielfarbigen Großtext
       vervollkommnen und zu einem einzigartigen Kunstwerk machen, in dem sich
       vielleicht nicht die ganze Welt wie bei Gustav Mahler, aber doch das ganze
       20. Jahrhundert in seiner Weite, Tiefe und Gewichtigkeit spiegelt.
       
       Péter Nádas: „Aufleuchtende Details. Memoiren eines Erzählers“. Aus dem
       Ungarischen von Christina Viragh. Rowohlt Verlag, Reinbek 2017, 1.280
       Seiten, 39,95 Euro
       
       15 Nov 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tobias Schwartz
       
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