# taz.de -- Leyla YenirceInselstatus: Ein kurzer Moment der Nachbarschaft
       
       Liebe Insel, soziale Ungleichheiten gibt es hier in Wilhelmsburg viele. Am
       deutlichsten wird es an Gegensatzpaaren wie Lidl und Edeka, Drei-Euro-Döner
       und Zehn-Euro-Grünkern-Burger oder Fairtrade-Fashion-Store und dem billigem
       Ramschladen mit seiner Synthetik-Kleidung. Es gibt aber auch einen Ort, an
       dem sich Menschen mit all ihren Unterschieden treffen, weil mindestens ihre
       Interessen manchmal doch nicht so verschieden sind. Das ist der Flohzinn in
       Wilhelmsburg, ein Flohmarkt, der jeden ersten Sonntag im Monat in den
       Zinnwerken, einer alten Zinnfabrik im Reiherstiegsviertel, stattfindet.
       
       Das Besondere an diesem Flohmarkt ist, dass die halbe Insel hingeht. Egal
       ob hippe junge Studierende, die nach einem Vintagemöbelstück für ihr neues
       WG-Zimmer suchen oder der alte Alki von nebenan, der nach einem neuen
       Esstisch Ausschau hält. Sie sind genau so zahlreich vertreten wie die
       Kinder und Senioren aus dem Viertel oder sogar Besucher*innen von der
       andere Elbseite, die einen Abstecher in den Süden der Stadt wagen. Klingt
       wie eine Phrase aus der Werbung, doch dieser Flohmarkt scheint die Menschen
       tatsächlich zusammenzubringen. Ob es daran liegt, dass alle gleichermaßen
       nicht so wirklich wissen, wohin mit dem Sonntag, oder haben einfach alle
       ein bisschen Bock auf billig?
       
       Ich bin selber schon oft mit leeren Händen vom Flohzinn zurückgekommen.
       Bereut habe ich meinen Besuch aber nie, weil es schön ist, die volle Pracht
       der lebendigen Anwohner*innenschaft bei einer Tofu-Bratwurst oder Tasse
       Filterkaffee zu genießen. Und auch wenn das Leben im urbanen Raum manchmal
       einsam erscheint, sind es genau solche Events, die für einen kurzen Moment
       ein Gefühl von Nachbarschaft erzeugen.
       
       Dahin gestellt, ob diese tatsächlich existiert oder ob man nur für kurze
       Zeit einer Illusion aufsitzt. Aber der Flohmarkt schafft ganz ungezwungen,
       verschiedene Menschen anzulocken. Das allein ist schon einer Erwähnung
       wert. Wo sonst findet eine solche Kollektivität statt, in der sich die
       Diversität der Insel nicht nur in einem Nebeneinanderher widerspiegelt?
       Nicht das Koexistenz verkehrt ist, aber miteinander ist ja auch etwas
       Erfreuliches.
       
       Und über diese erfreulichen Dinge gehen wir oft viel zu lapidar hinweg. Es
       ist doch viel wert, wenn auch in Zukunft Studierende und Arbeitslose
       gemeinsam alte Turnschuhe für einen Euro ergattern können. Denn dieses
       Geld, das übrig bleibt, können sie dann zum Beispiel für einen Kaffee
       ausgeben und von Stand zu Stand schlendern, bevor sie sich wieder in ihre
       Wohnungen verkriechen.
       
       Leyla Yenirce ist Kulturwissenschaftlerin und schreibt wöchentlich aus
       Wilhelmsburg über Spießer*innen, Linke, Gentrifizierer*innen und den
       urbanen Wahnsinn in der Hamburger Peripherie.
       
       23 Oct 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Leyla Yenirce
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA