# taz.de -- Politik Wie regiert man ein Dorf, wenn man nicht mal Geld für Sprit hat? Ein Besuch beim ärmsten Bürgermeister Deutschlands: Die Schönheit von Gallin
       
 (IMG) Bild: Vor zwei Jahren stellte die Bahn den Zugverkehr nach Gallin-Kuppentin ein
       
       Von Timo Nicolas (Text) und Luis Filippo Welz (Fotos)
       
       Der Bürgermeister müsste eigentlich den Zug nehmen. Doch der fährt nie.
       Unkraut wuchert aus den Fugen des gepflasterten Bahnsteigs. Die Verbindung
       ins Dorf wurde vor zwei Jahren gekappt. Dabei hatte die Bahn kurz zuvor
       noch einen neuen Übergang gebaut. Die Schranken grüßen nun, für immer
       senkrecht, Besucher und Bewohner am Ortseingang von Gallin.
       
       Holger Klukas könnte mit dem Bus fahren. Doch der fuhr schon um 7.50 Uhr.
       Und der nächste, der letzte, kommt erst um 15.28 Uhr. Deshalb steigt er in
       den alten, grünen Renault, den er geschenkt bekommen hat, dreht den
       Zündschlüssel und fährt mit fast leerem Tank die einzige Straße im Dorf
       Richtung Süden. Er muss in die Stadt, aber Sprit ist teuer, und Klukas ist
       arm. Eine Tankfüllung kostet fast ein Zehntel seines Hartz-IV-Satzes. Doch
       ohne Auto ist man hier nutzlos, ein Niemand. Und Klukas kann es sich nicht
       leisten, nutzlos zu sein. Denn er ist der Chef von Gallin-Kuppentin: 5
       Dörfer, 472 Einwohner. Er ist der vielleicht ärmste Bürgermeister
       Deutschlands.
       
       Die Gemeinde Gallin-Kuppentin liegt zwischen den Dörfern Rom, Goldberg und
       Benzin an der Mecklenburgischen Seenplatte. Hoch in der Luft zieht der Rote
       Milan seine Kreise über den Wiesen, mit scharfem Blick auf der Suche nach
       Feldmäusen. Unten grasen gehörnte Schafe und gefleckte Kühe. Ein Idyll ist
       es, aber eines mit unausgeglichenem Haushalt und Schulden.
       
       Als Klukas 2006 zum Bürgermeister gewählt wird, ist der Kindergarten schon
       geschlossen und die Schule wird bald folgen. Verfallen und verwunschen
       liegt sie heute neben dem Gemeindehaus von Gallin, Klukas’ Amtssitz. Stetig
       gewinnt das Grün der Natur hier wieder die Oberhand, bahnt sich seinen Weg
       entlang der Risse im Mauerwerk und schießt im Innenhof aus dem Boden.
       Klukas würde die Schule gerne verkaufen, findet aber keinen Käufer.
       Versteigern ist zu gefährlich, er befürchtet, dass Rechte den Zuschlag
       bekommen könnten und in den Räumen ihre Versammlungen abhalten.
       
       Arbeitslos? Nein, dachte er einst, dafür sei er doch zu gut ausgebildet. In
       Magdeburg zu DDR-Zeiten ein Ingenieurstudium, nahe Gallin angestellt bei
       einem Möbelbauer, der in Massen Schranksysteme fertigt. So wie Ikea. Nur
       eben nicht so erfolgreich. Als 1999 klar wird, dass die Firma in Konkurs
       geht, hat Klukas einen Schlaganfall. Mit 45. „Ich dachte: Heute bist du
       arbeitslos und morgen tot.“ Der Kredit für sein Haus, drei Kinder und eine
       Frau, die auch ihren Job verloren hat. Er muss sich zusammenreißen, kommt
       wieder auf die Beine, schleppt sich zu Umschulungen, über
       Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen hin zu 1-Euro-Jobs. Doch nichts bleibt. Die
       Reformen der Regierung Schröder treffen ihn mit vollen Wucht. Er ist nicht
       vermittelbar, ein Langzeitarbeitsloser, einer, den die Gesellschaft nicht
       respektiert, nicht braucht.
       
       Klukas zieht manchmal sein rechtes Bein nach. Eine Gallenblase hat er nicht
       mehr. Die Schilddrüse fehlt auch. Deshalb hat er aufgehört zu trinken, was
       sich für einen Bürgermeister eigentlich nicht schickt. Ein korpulenter
       Nordmann, ruppig im Ton, herzlich im Umgang. Im Renault die Finger am
       Fensterschieber, immer bereit zu einem Spruch, wenn ein Mitbürger in
       Rufweite ist, immer per Du: „Na, hast’nen Fisch für mich mitgefangen?“,
       „Die Damen, auf dem Weg zum Baden?“, „Deine Kühe, Jan, so schön wie immer“.
       Und wenn ein Ast auf der Straße liegt, hält er an und wirft ihn in den
       Graben. Bürgermeister sein, das kann er gut.
       
       Dabei wäre er es fast nicht geworden. Man sei damals auf ihn zugekommen,
       habe ihn gebeten, sich zur Wahl zu stellen. Doch Klukas verneinte. Wollte
       nicht dem System dienen, dem er eine Mitschuld an seinem Niedergang gibt.
       Auf der anderen Seite: Wie kann man etwas verbessern, wenn man nur von
       außen schimpft? Und dann war da noch die Aufwandsentschädigung. 500 Euro,
       das ist viel Geld. Also ließ er sich doch aufstellen, als Parteiloser.
       
       Die fünf Dörfer und drei Seen seiner Gemeinde sind mit Spurbahnen
       verbunden. Das sind Loipen für Autos, asphaltiert nur dort, wo die Reifen
       den Boden berühren. Das spart Geld. Wenn Klukas auf ihnen durch sein
       kleines Reich fährt, kann er viel erzählen. Entlang der „Wodka-Allee“, wo
       die Problemfälle leben, vorbei am Haus der alten Witwe links, die tragisch
       ihren Mann verlor, und am Bauern rechts, der seine Kühe aufgab, hinunter zu
       dem sonderbaren Schriftsteller, der an der Elde wohnt, die in die Elbe
       fließt, der über Mystik und Romantik schreibt und wohl ein Freimaurer sei.
       Was auch immer das sei.
       
       Er kennt sie alle, er mag die meisten. Klukas schätzt, dass in seiner
       Gemeinde noch etwa dreißig Kinder leben und ebenso viele Erwachsene, die
       einen Beruf haben. Alle anderen leben von der Rente. Oder von Hartz IV. Er
       sei sicher nicht der einzige arbeitslose Bürgermeister. Aber er hat keine
       Scham, darüber zu sprechen.
       
       Als seine Gemeinde auf unter 500 Einwohner schrumpft, sinkt auch seine
       Aufwandsentschädigung. Nur noch 350 Euro. Immerhin werden bei Dienstfahrten
       die Benzinkosten übernommen. 2010 bekommt er ein Schreiben aus Schwerin.
       Der Ehrenamtssold von Bürgermeistern soll auf den Hartz-IV-Satz angerechnet
       werden. Es blieben ihm dann nur noch 200 Euro.
       
       Damit will er sich nicht abfinden. Er schreibt Briefe. Zuerst an den
       Landkreis, dann an den Ministerpräsidenten. Irgendjemand muss ihn doch
       hören. Eines Tages bringt der Postbote die Antwort des Landesvaters. Sie
       beginnt vielversprechend: „Ehrenamtliches Engagement muss attraktiv
       bleiben, unsere Gesellschaft lebt davon.“ Endlich einer, der ihn versteht,
       der seine Arbeit wertschätzt. Doch dann liest er weiter.
       
       Sieben Jahre ist das her, heute klingt Klukas frustriert, wenn er über den
       Brief spricht. Er sitzt im Auto auf dem Weg in die Stadt, nach Lübz, er hat
       einen wichtigen Termin.
       
       Alle zwei Wochen besucht er die örtliche Tafel. Dort sitzen seit dem Mittag
       mehrere Mitarbeiter der Deutschen Arbeitslosenhilfe daran, übrig
       gebliebenes Essen in etwa einhundert Pappkartons aufzuteilen. Putenbrust
       mit Paprikarand, grobe Bratwürste, Butter, Gurken und Pilze.
       
       Der Chef der Tafel sagt, seit Jahren sei die Zahl der Bedürftigen konstant
       hoch. Für jeden von ihnen wird ein Karton vorsortiert, mit dem
       Familiennamen beschriftet und in ein Regal im Lager gestellt. Als der
       Bürgermeister eintrifft, begrüßt er zuerst den Chef mit Handschlag, betritt
       dann das Lager und kneift die Augen zusammen, um schärfer sehen zu können.
       Er sucht etwas im Regal – einen schwarzen Pappkarton mit seinem Namen
       drauf.
       
       Für nur zwei Euro haben seine Frau und er dadurch Essen für ein paar Tage,
       vielleicht eine Woche. Doch was sie essen, bestimmt die Tafel. Natürlich
       hat er auch versucht, selbst etwas anzubauen. Aber die Rehe haben die
       Erdbeeren gefressen, den Kohl die Hasen. Und täglich schoss der Rote Milan
       vom Himmel und riss eines seiner Küken. Deshalb gießt seine Frau im Beet
       vor dem Haus jetzt nur noch Blumen. Und Holger Klukas setzt sich an sein
       Küchenfenster, blickt friedlich durch seinen Feldstecher und beobachtet die
       Rehe, die Hasen, den Roten Milan, statt sie zu verscheuchen.
       
       Die Schönheit von Gallin ist offensichtlich. Die Klinkerbauten, die alte
       Mühle, das Wasser, die süße Luft und der kräftige Nordwind. Die Tragik
       steckt im Detail. Der Zugfan, der extra neben den Bahnhof zog, dessen
       Gleise jetzt stillgelegt sind. Die letzte Kneipe, die gerade schließen
       musste. Die stattlichen Gutshäuser, einst Mittelpunkt des Dorflebens, die
       heute Bayern oder Berlinern gehören. Die freiwillige Feuerwehr, die 26
       Mitglieder hat, von denen aber nur zehn fit für den Einsatz sind. Wenn
       überhaupt. Dass die Jungen wegziehen, weil es weder Arbeit gibt noch guten
       Handyempfang. Und dass die Alten nicht mehr rauskommen, weil der Bus nur
       zweimal am Tag fährt.
       
       Die Antwort des Ministerpräsidenten von damals enttäuscht ihn noch heute.
       „Eine schnelle Änderung der Anrechnungsregeln kann ich Ihnen jedoch nicht
       versprechen“, heißt es auf Seite zwei. Dann folgt die Unterschrift von
       Erwin Sellering. Der Bürgermeister sitzt in seiner kleinen Küche in seinem
       kleinen Haus, den alten Brief vor sich, und weiß nicht, wann er das letzte
       Mal in einem Kino war. „Ich fühle mich von der Gesellschaft
       ausgeschlossen.“
       
       Er hat kein Geld, um zu streichen. In den Urlaub fährt er nur, wenn seine
       Mutter es ihm bezahlt. Und trotzdem öffnet er die Tür, jedes Mal, auch
       sonntags, wenn seine Bürger klingeln und von Problemen erzählen, die Klukas
       gar nicht lösen kann. Er überreicht artig Blumensträuße an runden
       Geburtstagen, lehnt aber den Sekt ab, sitzt jeden Donnerstag in seiner
       Amtsstube, zur Bürgersprechstunde, auch wenn niemand erscheint. Egal. Man
       nimmt ihm jetzt von dem Wenigen, das er bekommt, noch ein wenig mehr weg.
       Anerkennung muss sich anders anfühlen.
       
       So klein sein Haus, so groß die Natur, die ihn umgibt. Am Nachmittag steigt
       Holger Klukas auf den Steg des Penzliner Sees, in dem sich dunkle Wolken
       spiegeln, blickt über die Baumkronen in die Ferne, dorthin, wo sein Reich
       endet und das nächste beginnt, und sagt: „Wir wohnen schön. Aber zum
       Geldverdienen ist es scheiße.“
       
       Wenn sich daran nicht bald etwas ändert, stirbt Gallin-Kuppentin. Wird eine
       tote Gemeinde, in der Bayern und Berliner ihre Ferienhäuser haben. Aber
       Klukas hat das Dorf noch nicht aufgegeben. Am Abend fährt er zu einer
       Sitzung des Kulturausschusses. Vor dem Gemeindehaus warten der
       Volleyballtrainer und der übergewichtige Feuerwehrchef. Jeden Juli gibt es
       ein Sommerfest, alle packen mit an. Eine Kegelbahn wird ausgelegt, eine
       Hüpfburg aufgeblasen, Würste werden gegrillt, jemand schenkt Bier aus.
       
       Seit über zehn Jahren ist Klukas mittlerweile im Amt, bald wird er vom
       Arbeitslosen zum Rentner, doch aufhören will er noch nicht. Bei seiner
       ersten Wahl bekam er fast 70 Prozent der Stimmen. Seitdem hat er alle
       Wahlen gewonnen.
       
       Vor ein paar Jahren hat Klukas sogar wieder einen Sportverein gegründet,
       und wenn alles nichts hilft gegen die drohende Tristesse, greift er zur
       Bassgitarre und covert mit seiner Country-Band „House of the Rising Sun“.
       Dann klatschen die Alten und Jungen zusammen im Takt, und der Bürgermeister
       ist glücklich.
       
       8 Jul 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Timo Nicolas
       
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