# taz.de -- Der witzigste Stockhausen jemals
       
       > Diskursprojekt „Ein Traum von Weltmusik“ im HAU entpuppte sich als ein
       > Fest der Überraschungen und dank der zwanzig Mitglieder der „Heimatlieder
       > aus Deutschland“ auch als ein dreifaches Halleluja auf den Amateur
       
 (IMG) Bild: Das Heimatlieder-Ensemble interpretiert Peter Michael Hamels „Let it play“
       
       von Cord Riechelmann
       
       „Ein Traum von Weltmusik“ , wie das am Freitag- und Samstagabend von Mark
       Terkessidis und Jochen Kühling im HAU aufgeführte Vortags-, Gesprächs- und
       Musikprojekt hieß, war zuerst ein Fest der Überraschungen. Von Karlheinz
       Stockhausen, interpretiert mit Akkordeon, akustischer und elektrischer
       Gitarre und Cello, über einen zurückhaltend schön imitierten Ruf eines
       Amazonasfroschs bis zu einem alten, weisen Mann, der zum ersten Mal in
       Deutschland auftrat und so viel Geschichte in sich trug, dass er bestimmt
       alles ist, aber mit Sicherheit kein ausgebildeter Historiker.
       
       Der weise Mann war der 1938 geborene Musiker und Komponist François
       Tusques, der für die Musik in Frankreich das ist, was der Schriftsteller
       Pierre Guyotat für die Literatur ist. Beide waren als junge Menschen zur
       Armee eingezogen und in den Algerienkrieg geschickt worden, was beide
       politisch und kunstformalsprachlich radikalisierte. Tusques wird in der
       Folge zum französischen „Free Jazz“-Pionier.
       
       Die Ereignisse vom Mai 1968 in Paris lassen ihn allerdings zu der
       Erkenntnis kommen, dass dem Free Jazz etwas fehlt, das weiter reicht als
       das offene Experiment im kleinen Keller. Im Gespräch mit Mark Terkessides
       sagte Tusques, dass es vor allem arabische und schwarzafrikanische Musiker
       und Musiken waren, die ihm Augen und Ohren für eine größere Welt öffneten.
       Terkessides hatte dazu ein Stück von Tusques aus der Zeit vor dem Mai 68
       und eines aus der Zeit danach angespielt, und der Unterschied war so
       frappierend, dass man kurz ohne eine weitere Erklärung verstand, warum er
       sein Nach-68-Projekt „Intercommunal Free Dance Music Orchestra“ genannt
       hatte.
       
       Mit der Sängerin Isabelle Juampera Vivancos improvisierte François Tusque
       am Klavier dann einen Text von Arthur Rimbaud auf eine Weise, dass der
       Auftritt wie die neuen Prolegomena zu Rimbauds berühmter Forderung, nach
       der die Liebe neu erfunden werden müsse, wirkten. Man war nur dankbar,
       dabei gewesen zu sein, und in seinem Theatersessel so weich geworden, dass
       man den Kuratoren des Abends für ihre zarte Empirie die ganze Welt in den
       Saal gewünscht hätte.
       
       Vor Tusque hatte nämlich an diesem Samstag bereits die Künstlerin und
       ehemalige Spex-Mitherausgeberin Jutta Koether in ihrer Vortragsperformance
       „Pique-Nique (#4)“ vom Sammeln der kleinen Dinge erzählt und in Louis
       Armstrong den Vater und Gründer all dieser weltzerstreuten Sound- und
       Bildersammlerinnen gefunden. Eine These, die einem illustriert mit einem
       YouTube-Video von Armstrong so einleuchtete, wie Mark Terkessides’
       Eingangsfeststellung, dass mit der Minimal Music eine Revolution begonnen
       worden sei, die noch lange nicht an ihr Ende gekommen sei. Terkessides war
       in seinem in die Abende einleitenden Vortrag das Kunststück gelungen,
       tatsächlich Minimal Music, den Wortursprung „Weltmusik“ und das Projekt
       „Heimatlieder aus Deutschland“ so zusammenzuführen, dass man fast noch mal
       zum Nachkindheitsfan der Olympischen Spiele von 1972 in München geworden
       wäre.
       
       ## Ungehörte globale Sounds
       
       Der Begriff „Weltmusik“ findet sich im Katalog zur Kunstausstellung zur
       Olympiade in München und meint nichts anderes, als die Ohren für die
       ungehörten Sounds der weiten Welt zu öffnen. In Verbindung mit der Minimal
       Music, die sich als Aufstand gegen die in mathematisierten, unhörbaren
       Formalisierungen erstarrte serielle Musik und die einschüchternden
       Erziehungsmethoden der Musikkonservatorien verstand, ergab sich daraus im
       HAU eine ungeahnte aktuelle Brisanz. In einer Zeit, in der jeder Knalldepp
       das Wort „unprofessionell“ als Vorwurf in die Welt schleudern und jeder
       Pfeifenhans den Profi geben kann, war der Traum von der Weltmusik auf
       einmal so subversiv wie François Tusques ganzes Leben. Die Vorträge
       bereiteten jeweils auf den Akt des Abends vor, Interpretationen von
       Klassikern der Minimal Music wie Karlheinz Stockhausen, Hans Otte, Grete
       von Zieritz oder Simeon ten Holts „Canto Ostinato“.
       
       Gespielt wurden sie von Mitgliedern des Kunstprojekts „Heimatlieder aus
       Deutschland“, die sich vorgenommen haben, die musikalischen Heimaten des
       Einwanderungslandes Deutschland auf eine der Vielfalt gerecht werdende
       Ebene zu heben. Zwanzig dieser Musiker, die in der Regel anderen Berufen
       wie Altenpfleger, Restaurantbesitzer oder Informatiker nachgehen und keine
       klassische Musikausbildung haben, hatten sich auf das Experiment mit den
       von ihren folkloristischen Ursprüngen mehr oder weniger weit entfernten
       Kompositionen eingelassen. Und wie sie dann mit Gitarren, Rahmentrommeln
       und Akkordeon den in jeder Beziehung überautoritären Stockhausen in den
       entregionalisierten Weltsound überführten, war wahrscheinlich der witzigste
       Stockhausen der je Sound geworden war, und das muss man bei korrekter
       Übersetzung der sturen Notation erst mal hinkriegen. So war der Abend nicht
       zuletzt ein dreifaches Halleluja auf den Amateur als Angriff auf die Pest
       unserer Zeit: den sogenannten Profi.
       
       27 Jun 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Cord Riechelmann
       
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