# taz.de -- Gelegenheit, sich ins Ungewisse vorzuwagen: Das wohlige Unbehagender Überforderung
       
       Globetrotter 
       
       von Elise Graton
       
       Neulich lief „La Planète sauvage“(Der wilde Planet) auf Arte. Obwohl mir
       der Zeichentrickfilm aus dem Jahr 1973 ein Begriff war, hatte ich ihn noch
       nie gesehen. Mein Freund P. hingegen sah sich dem psychedelischen Werk
       bereits im Alter von 9 Jahren ausgesetzt, und das hat, so sagt er, bei ihm
       Spuren hinterlassen.
       
       Ohne auch nur das Geringste verstehen zu können, sog er Roland Topors
       fiebrige Irrwelten bis zur letzten Sekunde in sich auf. Er war damals
       überzeugt, Zeichentrickfilme seien für Kinder, also ihn. Die verstörende
       Wirkung der politischen Parabel prägte ihn nachhaltig (er wurde später
       Zeichentrickfilmer). Bei mir war es ähnlich: Obwohl sich die an Erwachsene
       gerichtete Comicreihe „Philémon“ meinem Verstand komplett entzog, konnte
       ich damals als 8-Jährige nicht umhin, wegen der surrealistischen Bände
       immer wieder in die Bibliothek zu rennen. Der Zeichenstil gefiel mir, aber
       es war die zugrundeliegende Melancholie, die mich komplett überforderte –
       und reizte.
       
       Dieses wohlige Unbehagen, wie P. und mir beim Erinnern klar wird, lag
       daran, dass wir damals nicht begriffen, dass wir es noch nicht begreifen
       konnten. Wir waren schlicht nicht reif genug. So einen
       bewusstseinsüberfordernden Kick vermissen wir nun beide, merken wir, jetzt,
       wo wir vernünftige Erwachsene geworden sind.
       
       Eine Gelegenheit, sich mal wieder wenigstens ein bisschen ins Ungewisse
       vorzuwagen, bot sich mir kürzlich beim Berliner Performing Arts Festival –
       durch eine „Shifting Perspektive“ genannte Tour: „In direkten
       Eins-zu-eins-Begegnungen treffen Teilnehmer*innen mit verbundenen Augen auf
       vier Protagonist*innen mit unterschiedlichen Migrationserfahrungen“, stand
       im Programm.
       
       Als ich pünktlich beim Treffpunkt am Neuköllner Rathaus erscheine, wird mir
       tatsächlich eine sichtversperrende Schlafbrille in die Hand gedrückt – und
       ein kleiner Stadtplan. Zu den vier Stationen soll ich mich eigenständig
       begeben, dort angelangt jeweils die Brille überstülpen und dann bitte
       warten, bis jemand kommt.
       
       Die erste Station befindet sich an einer beliebigen Straßenecke. Weit und
       breit ist niemand zu sehen. Brav setze ich die Brille auf und komme mir
       sofort lächerlich vor, und unerwartet verwundbar. Es dauert eine gefühlte
       Ewigkeit, bis ich Schritte höre – gefolgt vom ersehnten „Hello“. Leah, so
       heißt meine erste Begegnung, führt mich etwas an der Hand: Die Brille
       bleibt an. „Wir befinden uns auf einem Hügel, von dem aus du nun sehr gut
       über meine Heimatstadt Wellington in Neuseeland sehen kannst“, erzählt sie
       mir. „Rechts ist der Hafen und geradeaus, hinter dem großen Park, ist die
       Schule, die ich als Kind besuchte.“ Eine Tafel neben uns würdige das
       indigene Volk der Maori, sagt sie, deren Sprache vom Englischen fast
       komplett verdrängt worden sei.
       
       Leah wünscht sich, dass neuseeländische Kinder in Zukunft zweisprachig
       aufwachsen. Dann verschwindet sie. Die Brille soll ich aber noch eine
       Minute anbehalten. Das tue ich auch, bis das Kichern von
       vorbeischlendernden Mädchen mich aus meinem verdunkelten Wachtraum erweckt.
       
       An der zweiten Station, dem „Kinderzimmer“ eines Spielzeuggeschäfts,
       erzählt mir dann ein Pole namens Aleks von seiner Ankunft in New York 1988,
       inmitten eines Schneesturms. Er ist 10 und sieht seinen Vater zum ersten
       Mal wieder, nachdem dieser vier Jahre vor dem Rest der Familie ausgewandert
       war. „Er hatte sich verändert und war fortan unnahbar“, erinnert sich
       Aleks. Erst später ahnte er, dass es wohl eine neue Freundin gab.
       
       Als Drittes treffe ich auf einem Friedhof Sebastian, der mich eine Weile am
       Arm führt. Es ist heiß und ich schwitze. Sebastian erwähnt die Toten, die
       um uns liegen, und stellt sich vor, wie sich die Wurzeln der vielen Bäume
       durch die Leichen ihren Weg bohren. Dann erzählt er, dass er Stecklinge von
       Sukkulenten aus einem jüdischen Friedhof in Südafrika nach Europa
       geschmuggelt habe. Ich höre einfach nur zu.
       
       Zuletzt führt mich die Portugiesin Beatriz die Treppe runter zur U-Bahn. An
       den Gleisen sitze sie gern, wenn sie mit sich allein sein will, sagt sie.
       Das verstehe ich erst, als sie mich verlässt und ich nach zehn Sekunden die
       Augenbinde wieder abnehme: Ich stehe mitten auf dem Bahnsteig. Doch es
       nimmt mich keiner wahr.
       
       Elise Graton ist freie Autorin und Übersetzerin in Berlin
       
       20 Jun 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Elise Graton
       
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