# taz.de -- Der Pendler Attila Kiss gehört zu den 4.000 Ungarn, die in Berlin leben. In der Szene der Clubveranstalter und Craft-Beer-Brauer ist er allseits bekannt, weil er gern erfolgreiche Macherideen von einer Stadt auf die andere überträgt. Ein Gespräch in seinem Café Szimpla am Boxhagener Platz über das Ankommen, Zurechtfinden und Mitmischen: „Wir wollten ein bisschen Berliner Flair nach Budapest bringen“
       
 (IMG) Bild: „Auf dem RAW-Gelände sind viele Besucher Touristen, die eher die typische Berliner Musikszene suchen. Meine Idee war, eine Livemusik-Location zu schaffen, in die die Leute kommen, weil sie wissen, dass da gute Bands spielen, egal wer“, sagt Attila Kiss, hier in seinem Café Szimpla in Friedrichshain
       
       Interview Gunnar Leue Fotos Sebastian Wells
       
       taz: Herr Kiss, Sie sind der wohl umtriebigste Ungar in Berlin, aber ich
       habe mich dann doch gewundert, als ich Ihren Namen sogar in Wikipedia fand
       … 
       
       Attila Kiss: … ach so, das wusste ich gar nicht.
       
       Ja, es ging dann auch nicht um Ihre Person, sondern um einen Politiker,
       einen Abgeordneten der Regierungspartei Fidesz von Ministerpräsident Orbán. 
       
       Na ja, Kiss ist der allerhäufigste Name in Ungarn, so wie Müller hier in
       Deutschland. Und der Vorname Attila ist auch sehr verbreitet.
       
       Kommt es in letzter Zeit oft vor, dass Sie für die Politik von Viktor Orbán
       quasi in Haftung genommen und gefragt werden: Was macht Ihr Ungarn denn da
       so für Sachen? 
       
       Das passiert ständig, weil das ja auch immer wieder ein Thema in den Medien
       ist, was in Ungarn so vor sich geht.
       
       Nervt Sie das? 
       
       Hm. Das kann ich schwer beantworten. Ich sage mal, ja, denn es gibt ja so
       viel anderes im Leben auch in Ungarn als nur die Politik. Andererseits kann
       ich es natürlich gut verstehen, wenn die Leute einen darauf ansprechen. Ich
       bin ja selbst politikinteressiert und Zeitungsleser. Würde ich hier am
       Tresen einen Mazedonier treffen, würde ich ihm vielleicht auch solche
       Fragen stellen, weil über sein Land im Moment ähnliche Dinge in der Zeitung
       stehen wie über Ungarn.
       
       Lassen Sie sich oft auf eine Diskussion ein, wenn Sie auf die Vorgänge in
       Ihrer Heimat angesprochen werden? 
       
       Kommt darauf an, welche Laune ich gerade habe. Manchmal diskutiere ich mit,
       ja, und dann dauert es meist ganz lange, weil ich bei Adam und Eva anfangen
       muss. Außerdem würde ich es ja auch selber gern besser verstehen, was in
       Ungarn gerade passiert. Sicher habe ich einige Vermutungen, schließlich
       komme ich ja von dort. Aber wenn man der Sache auf dem Grund gehen will,
       kann man das eben nicht in ein paar Sätzen. Deshalb lasse ich es oft
       lieber.
       
       Gibt es eine Kurzfassung? 
       
       Also. zunächst gibt es natürlich etliche Leute, denen das, was Orbán
       macht, tatsächlich gefällt. Um das vielleicht besser zu erklären und um
       deutlich zu machen, dass die Ungarn nicht alle verrückt geworden sind,
       erzähle ich gern eine Geschichte. Mein inzwischen verstorbener Vater hatte
       bis vor zehn Jahren für eine deutsche Firma einen Betrieb in Ungarn
       geleitet. Ich hatte in der Schule Deutsch gelernt und ihm öfter geholfen,
       weil z. B auf den Industriemessen in der Praxis nicht Ungarisch, sondern
       Deutsch gesprochen wurde. Vor allem die älteren Ungarn hatten ein wenig das
       Gefühl, wie soll ich sagen …, kolonialisiert zu sein. Das ist sicher
       übertrieben, aber viele empfanden Ungarn zumindest als eine Art
       Wirtschaftskolonie der EU und speziell Deutschlands. Von den Banken bis zur
       Telekommunikation, alles gehörte deutschen Firmen. Das ist vielleicht einer
       der Faktoren, warum es so gut funktionierte, als die Regierung von Viktor
       Orbán den Nationalstolz der Ungarn wieder fütterte. Auch wenn die Regierung
       ausländische Investitionen weiter fördert, solange sie in den Produktions-
       und nicht in den Dienstleistungssektor fließen. Aber man muss auch sagen,
       dass es einen krassen Unterschied in der Unterstützung von Orbáns Politik
       zwischen den Leuten in Budapest und dem Rest des Landes gibt.
       
       Zur Zeit des Mauerfalls haben Sie als Teenager in Budapest gelebt. Vor
       allem für DDR-Bürger war Ungarn bis dato ein Sehnsuchtsland. Haben Sie
       eigentlich Erinnerungen an die Horden von Ossis, gut zu erkennen an
       Jutebeuteln und Römerlatschen, die damals auf der Suche nach West-LPs durch
       die Plattenläden streiften? 
       
       Nein, das habe ich nicht mitbekommen, oder ich habe nicht darauf geachtet.
       Aber ich hatte trotzdem Kontakt zu DDR-Bürgern. Ich habe Decken und Suppe
       an DDR-Flüchtlinge in meiner Kirchengemeinde Zugliget verteilt, als es mit
       der Massenflucht anfing. Unser Gemeindepfarrer Imre Kozma hatte erklärt,
       dass die DDR-Bürger, die nicht in ihr Land zurückwollen, jetzt auf dem Hof
       unserer Kirche campen dürften. Einige Jahre später hat der deutsche
       Außenminister unserer Kirchengemeinde dafür übrigens eine Orgel geschenkt.
       
       Sie waren als Kind sozusagen mitten in einem Stück Weltgeschichte. 
       
       Kann man so sagen. Mit 14 Jahren mitten im Geschehen zu sein war ein tolles
       Gefühl und ein starkes Erlebnis für mich. Ich weiß noch, dass die ganze
       Straße zu unserer Kirche mit Hunderten Trabis vollgeparkt war. Ich hatte
       tatsächlich das Gefühl, eine historische Situation mitzuerleben.
       
       Was war der Grund dafür, dass Sie ein paar Jahre später nach Berlin gingen? 
       
       Ich hatte Sozialwissenschaften und europäische Volkskunde in Ungarn
       studiert, und als ein Stipendium für die Humboldt-Universität
       ausgeschrieben wurde, habe ich die Chance genutzt, da ich ja Deutsch
       sprach. Ich war vorher als Tourist schon hier und dort, aber es ist etwas
       ganz anderes, irgendwo länger zu leben. Es ging mir eigentlich auch gar
       nicht speziell um Berlin, sondern als junger Mensch wollte ich einfach mal
       irgendwo leben, wo alles anscheinend ganz anders ist als zu Hause. Von 1995
       an habe ich zwei Jahre in Berlin gelebt. Die Stadt wirkte damals noch ganz
       anders als heute.
       
       Wo haben Sie gewohnt? 
       
       In Prenzlauer Berg, in einer WG, ganz klassisch mit Ofenheizung. Wir waren
       natürlich auch viel unterwegs, auf Konzerten.
       
       Auch auf Technopartys? 
       
       Nein, eher Weltmusik, 17 Hippies und so. Bei der Love Parade war ich nur
       einmal, das war nicht mein Ding.
       
       Sie sind dann erst mal nach Budapest zurückgegangen, wo Sie selbst zusammen
       mit Freunden ein alternatives Kulturzentrum eröffnet haben: das Szimpla
       Kert, das auch Sozialprojekte beheimatet und heute ein richtiger
       Touristenanlaufpunkt ist. 
       
       Als wir das Szimpla Kert vor 16 Jahren in einer stillgelegten Ofenfabrik im
       alten jüdischen Viertel von Budapest aufmachten, haben wir uns auch von
       Berlin inspirieren lassen. Uns hatte diese Mischung aus Ruinen, Kneipen und
       Kultur in zwischengenutzten Gebäuden wie dem Tacheles so gefallen. Von
       diesem Berliner Flair wollten wir ein Stückchen übernehmen. Also haben wir
       das Konzept der Zwischennutzung auf Budapest übertragen. Etliche
       Investoren hatten damals im 7. Bezirk Häuser gekauft, die sie verrotten
       lassen wollten, um dann Neubauten zu errichten. Lustigerweise entwickelte
       sich die Sache mit dem Szimpla Kert so, dass aus unserer Zwischennutzung
       ein Dauerding wurde.
       
       Und als Sie 2007 nach Berlin zurückkamen, wollten Sie da ein Stück Budapest
       nach Berlin bringen?
       
       Ich bin damals mit meiner deutschen Freundin nach Berlin gezogen und dachte
       mir, warum nicht auch ein Stückchen Budapest hierherbringen. Also habe ich
       das Kaffeehaus Budapest, das heute Café Szimpla heißt, in Friedrichshain
       eröffnet.
       
       Um einen kulturellen Anlaufpunkt für die Ungarn in Berlin zu bieten? 
       
       Nur ein bisschen. Ab und zu sind ja auch ungarische Bands hier aufgetreten.
       Aber das war nicht meine hauptsächliche Absicht.
       
       Beim Badehaus Szimpla aber schon, oder? Als Sie den Club auf dem
       RAW-Gelände 2011 eröffneten, traten anfangs jedenfalls viele ungarische und
       osteuropäische Musiker dort auf. 
       
       Ja, damals hatte ich wirklich geplant, ein bisschen ungarische Kultur,
       speziell Bands aus Budapest, nach Berlin zu holen. Ich kannte ja praktisch
       jeden Musiker, der in Budapest professionell Musik machte.
       
       Der Club heißt seit einiger Zeit nur noch Badehaus. Warum haben Sie das
       „Szimpla“, zu Deutsch „einfach“, aus dem Namen gestrichen? 
       
       Das hatte praktische Gründe. Der Name deutete ja sehr auf den ungarischen
       Einfluss des Programms hin, aber die Berliner waren nicht so leicht für
       ungarische Bands zu begeistern. Vor allem nicht in einem etwas größeren
       Laden. Es hat nicht funktioniert.
       
       Ist das Berliner Publikum doch nicht so offen, wie es immer heißt? 
       
       Auf dem RAW-Gelände sind viele Besucher Touristen und die suchen eher die
       typische Berliner Musikszene. Meine Idee war: eine Livemusik-Location zu
       schaffen, in die die Leute kommen, weil sie wissen, dass da gute Bands
       spielen, egal wer. Aber so läuft das nicht. Die einen Bands ziehen, andere
       ziehen nicht, so einfach ist das. Vielleicht war ich zu naiv. Jedenfalls
       mussten wir beim Booking umdenken, um das Badehaus auf den Status zu
       bringen, wo es jetzt steht.
       
       Ist das Veranstaltergeschäft in Berlin härter, als viele denken? 
       
       Oh ja, es ist sehr hart, weil einfach wahnsinnig viel Konkurrenz herrscht.
       
       Angesichts Ihrer Erfahrungen in den beiden Städten Berlin und Budapest, wo
       ist eigentlich die Bürokratie schlimmer? 
       
       Ach, ich weiß nicht. Da hat sich in den letzten zehn Jahren auch viel
       geändert. Ich musste kürzlich in Budapest vier unterschiedliche Sachen auf
       dem Bürgeramt erledigen und war in sechs Minuten durch, ohne Termin. Kein
       Vergleich zu früher.
       
       Oder zu Berlin. 
       
       Als Unternehmer habe ich hier dafür den Eindruck, dass auf dem Amt ein
       Beamter sitzt, der mir helfen will. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich ihn
       bei der Arbeit störe. Es kann in Berlin echt passieren, dass die mich
       anrufen, wenn irgendwas nicht stimmt. Ich muss da nicht
       hinterhertelefonieren. Meine Erfahrungen sind tatsächlich super positiv.
       Ich weiß, das glauben mir viele Leute nicht, weil der Ruf der deutschen
       Bürokratie so schlecht ist, vor allem in Berlin. Aber wenn man von
       woanders kommt, hat man eben ganz andere Erfahrungen. Ich habe mir mit
       meinen Leuten in Budapest damals vorgenommen, niemanden zu schmieren. Das
       haben wir auch durchgezogen, und es hat funktioniert, obwohl uns das
       niemand geglaubt hatte.
       
       Das Szimpla Kert dürfte auch seinen Teil zur Aufwertung des Szeneviertels
       beigetragen haben. Gelten Sie in Ihrer Heimatstadt als ein Gentrifizierer? 
       
       Ich habe noch keine persönlichen Vorwürfe bekommen, aber natürlich gibt es
       jetzt auch in Budapest eine Gentrifizierungsdebatte. Aus Berlin kenne ich
       die ja schon aus meiner Zeit in Prenzlauer Berg. In Budapest ist die in den
       letzten zwei, drei Jahren aufgekommen, nachdem die Preise hochgingen durch
       Airbnb und so. Das passiert jetzt wohl überall, aber ich finde es gut und
       auch wichtig, dagegenzuhalten und der Entwicklung der Stadt nicht freien
       Lauf zu lassen. In Budapest ist das aber besonders schwer, weil es dort
       nach der Wende anders gelaufen ist als in Ostberlin. In Budapest haben
       nicht die ursprünglichen Eigentümer Wohnungen zurückbekommen, sondern die
       Mieter. Jetzt werden manche alten Ostberliner vielleicht sagen: Toll! Aber
       es hat eben auch Konsequenzen. Oft haben runtergekommene Häuser 50
       Eigentümer, die alle kein Geld besitzen. Deshalb verfallen die Häuser noch
       mehr. Jede Münze hat zwei Seiten. Ich weiß auch nicht, was nun besser oder
       schlechter ist.
       
       Gibt es etwas, was die beiden Städte in der Gentrifizierungsfrage
       voneinander lernen könnten? 
       
       Hm, es ist schon so, dass in Budapest eher auf Berlin geschaut wird und man
       auf die Entwicklung dort hinweist, die ja viel früher begann. Als Betreiber
       des Szimpla Kert versuchen wir aber schon länger, etwas gemeinsam mit den
       Anwohnern auf die Beine zu stellen. Ich selbst habe dazu mal vor vielen
       Jahren einen Runden Tisch mit Denkmalschützern, Architekten und dem
       Stadtbezirksarchitekt im 7. Bezirk mitorganisiert. Heute organisiert das
       Szimpla Kert autofreie Straßenfeste zum Beispiel zum „Tag der Bäume und
       Vögel“, da geht es darum, die Verkehrsberuhigung des Stadtteils zu
       erreichen. Ähnliche Straßenfeste gibt es auch in Berlin, aber man kann die
       Konzepte nie eins zu eins übernehmen.
       
       Stichwort „Konzepte transferieren“: Sie gelten auch als Anschieber des
       Craft-Beer-Hypes in Berlin. Übernommen hatten Sie die Idee aus Budapest,
       der Hauptstadt eines Weinlandes! 
       
       Das war nicht meine Idee allein, ein guter Freund aus meiner Heimatstadt,
       Daniel Bart, hatte in Budapest schon vor einigen Jahren ein
       Craft-Beer-Festival organisiert. In Ungarn wurde der Trend aus Amerika
       viel früher übernommen als in Deutschland. Hier gab es schließlich immer
       auch gutes Bier, deshalb hat das hier einfach länger gedauert.
       
       Sie verkaufen in Berlin auch ungarisches Craft-Beer und in Budapest
       Berliner Craft-Beer. Welches verkauft sich besser? 
       
       In jeder Stadt verkauft sich eigentlich das lokale Bier am besten, weil das
       ja auch mit der Idee dahinter zu tun hat. Es geht nicht nur um den
       Geschmack, sondern die Leute wollen ja trinken, was von um die Ecke kommt.
       
       Obendrein haben Sie mit Partnern in Kreuzberg auch noch eine
       Craft-Beer-Bar, das Hopfenreich, eröffnet, obwohl Sie noch vor einigen
       Jahren sagten, dass Sie nicht wüssten, was man in Kreuzberg noch neu machen
       könnte. 
       
       Auf Ungarisch würde man sagen: Der Ball war so gut, den konnte man leicht
       schlagen. Nachdem unser erstes Braufest so ein Erfolg war, war es
       schlüssig, eine Craft-Beer-Bar zu eröffnen.
       
       Typisch Berlin ist, was das Bier angeht, aber immer noch das Wegbier in
       Form einer Pulle Industrieplörre. Hat sich diese Trinkgewohnheit
       eigentlich in Budapest auch eingebürgert? 
       
       Ja, die Sitte gibt es in Budapest inzwischen ebenfalls. Allerdings nicht in
       der ganzen Stadt. Es gibt Straßen, da darfst du auf der einen Seite mit
       einer offenen Bierflasche langlaufen und auf der anderen Seite nicht. Das
       liegt daran, dass in Budapest jeder Stadtbezirk seine eigenen Vorschriften
       hat. Da regieren 22 kleine Könige und nicht die Stadtregierung.
       
       3 Jun 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gunnar Leue
 (DIR) Sebastian Wells
       
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