# taz.de -- Politische Kultur in der Türkei: Einst Gründer, heute Kritiker
       
       > Ehemalige Gründer der AKP gehören heute mit zu den schärftsten Kritikern
       > der Partei. So wie Ertuğrul Yalçınbayır. Er erkennt die Partei kaum
       > wieder.
       
 (IMG) Bild: Wenn's nach ihm ginge: Rosen, Tulpen, Nelken – alle Kritik soll welken.
       
       Ertuğrul Yalçınbayır ist in den letzten Jahren zu einem der schärfsten
       Kritiker der Regierungspartei AKP und des Staatspräsidenten Erdoğan
       geworden. Dabei war er einst Mitbegründer der Partei und in der ersten
       Regierungszeit ab 2002 gar ihr Generalsekretär und Vizepremier. Für
       taz.gazete wagt er als einer der wenigen, die Erdoğan näher kennen, einen
       Ausblick auf die Zukunft der Regierung.
       
       Dass die AKP auch weiterhin geschlossen agieren werde, führt er auf den
       Personenkult und das Bedrohungsklima innerhalb der Partei zurück. Die
       gegenwärtigen Diskussionen um das “Ein-Mann-Regime“, die Anbindung des
       Staatspräsidenten an die AKP (bisher musste der Staatspräsident parteilos
       sein, Anm. d. Red.) und die Äußerung von Justizbeamten, die sich neuerdings
       offen für die Regierungspartei aussprechen, sind für ihn wichtige Zeichen:
       “Die Wende ist eingeläutet.“
       
       Das deutlichste Anzeichen dafür sei, dass die Übermacht der “Nein“-Stimmen
       während des Referendums Mitte April vormalig aus den Großstädten kamen.
       
       “Die Türkei wird sich nicht mehr an Wahlen orientieren, sondern an den
       Existenzsorgen der Leute. Die Rolle der jungen Menschen und der Widerstand
       der Großstädter gegen die Verfassungsänderung sind Momente der Hoffnung.
       Die Karten können sehr schnell neu gemischt werden. Die Zukunft des
       Gesetzespakets wird sich mit dem Druck der inneren und äußeren Kräfte
       verändern. Das Grundgesetz bleibt schwammig. Die gesellschaftlichen Kräfte
       werden bezeichnend sein. Der einzige Ausweg für die Türkei ist Demokratie.“
       
       ## Die Hoffnung stirbt zuletzt
       
       Für Yalçınbayır ist klar: „Wenn von vornherein gegolten hätte, dass das
       Staatsoberhaupt gleichzeitig das Parteioberhaupt wird, dann wäre die AKP
       niemals gegründet worden.“ Niemals hätte er der Gründung zugestimmt, wenn
       er gewusst hätte, dass sich das Selbstverständnis gegen das Grundgesetz,
       gegen das korrespondierende Rechtssystem, gegen die angestammte politische
       Kultur wendet, so Yalçınbayır.
       
       “Die AKP ist keine politische Partei mehr“, sagt Yalçınbayır. “Innerhalb
       der AKP wird es in Zukunft keine abweichenden Stimmen und konträren
       Meinungen mehr geben. Der Ausnahmezustand ist zum Status Quo geworden.“ Die
       Rolle der jungen Menschen und der Widerstand der Großstädter gegen die
       Verfassungsänderung seien für ihn wiederum Momente der Hoffnung: „Innerhalb
       eines Jahres werden die demokratischen Kräfte gestärkt werden, und wir
       können wieder lachen.“
       
       “Im Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte (HSYK) werden nun innerhalb
       eines eigentlich überparteilichen und unabhängigen Rechtssytems parteiische
       Richter eingesetzt. Allerdings wird dies nicht lange Bestand haben. Auf der
       Welt und in der Geschichte der Türkei gibt es dafür genügend Beispiele,
       dass Gerechtigkeit so nicht implementiert werden kann“, sagt Yalçınbayır.
       
       ## Existenzsorgen der Bevölkerung stehen an erster Stelle
       
       „Wir gehen unter, wenn wir unseren derzeitigen Zustand nicht analysieren
       und die Entwicklungen wissenschaftlich untersuchen lassen, kurz: unsere
       Hausaufgaben machen und transparent und ausgewogen arbeiten. Dieser neue
       Verfassungstext wird nicht funktionieren. Die Lösung ist einfach: statt
       Ausnahmezustand wieder zurück in den Normalzustand“, fordert der ehemalige
       Vizepremier.
       
       Zudem kritisiert Yalçınbayır die derzeitige kurzsichtige Politik seiner
       Partei und ist sich sicher, dass die Bevölkerung der Türkei sich der
       Problematik langsam bewusst wird: “Die AKP ist wie eine Fußballmannschaft,
       die immer daran denkt, das nächste Spiel zu gewinnen. Nur das Ergebnis
       zählt!“
       
       Und die “Nein“-Fraktion sei noch nicht am Ende. Die Opposition innerhalb
       der Gesellschaft habe gerade erst begonnen, erklärt Kritiker Yalçınbayır:
       „Der Weg aus der Dunkelheit führt allein über systematisches Arbeiten und
       Geduld. Der Bevölkerung sind die Augen geöffnet worden. Alles kann sich
       ändern. Hauptsache, die Hoffnung stirbt nicht.“
       
       18 May 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Erk Acarer
       
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