# taz.de -- Narzissmus-Hype als Kulturgejammer: Alle, alle Egoisten
       
       > Kristin Dombek zeichnet in ihrem Essay „Die Selbstsucht der anderen“
       > nach, wie aus einer psychologischen eine Kulturdiagnose wurde.
       
 (IMG) Bild: Lucky Look
       
       Da ist Allison, eine 16-Jährige aus Atlanta, Georgia, die verlangt, man
       solle für ihre Geburtstagsparty eine ganze Straße sperren – obwohl in der
       ein Krankenhaus liegt. Patienten, die dringend in die Notaufnahme müssen?
       Egal: „Mein sechzehnter Geburtstag ist ja wohl wichtiger als das, wo die
       alle hinwollen“, sagt sie in die Kameras von MTV, das eine Reality Show
       über die Lebenswelt der „Millennials“ dreht.
       
       Gleichgültigkeit, null Mitgefühl für andere, dafür ein übersteigerter
       Geltungsdrang: Das sind vorgebliche Kennzeichen dieser zwischen 1980 und
       2000 Geborenen. Doch da ist auch noch dieser mediengeile Massenmörder, der
       bei seiner Festnahme zufrieden grinste. Allerdings ist Anders Breivik 1979
       geboren und damit kein Millennial mehr. Und gilt nicht auch der 70-jährige
       Donald Trump als Prototyp eines Narzissten?
       
       Die Persönlichkeitsstörung, die 1980 ins „Diagnostische und Statistische
       Manual Psychischer Störungen“ aufgenommen wurde, hat eine steile Karriere
       gemacht: Aus einem Krankheitsbild, unter dem damals laut American
       Psychiatric Association weniger als 1 Prozent der US-Bevölkerung litten,
       ist eine umfassende Kritik westlicher Gesellschaften geworden. Promis,
       Politiker, der eigene Ex – alles Narzissten!
       
       Die US-Autorin Kristin Dombek zeichnet in ihrem Essay „Die Selbstsucht der
       anderen“ nach, wie aus einer psychologischen eine Kulturdiagnose wurde.
       Nicht nur Ärzte und Psychologen, auch Journalisten und Ratgeberautoren sind
       dem Narzissmus auf der Spur. Auch die Autorin begibt sich hinein in das,
       was sie „Narzissmusdrehbuch“ nennt: „Der Film Die Eiskönigin ist der
       Kinoblockbuster des Winters (…) Die App der Stunde heißt Tinder, Selfie ist
       zum Wort des Jahres erkoren worden, und eine jüngst veröffentlichte Studie
       belegt, dass unsere Sprache ichbezogener ist als jemals zuvor. (…) Es ist
       ein Winter, in dem es nicht schwerfällt, vor dem Computermonitor zu hängen,
       den entsetzten Blick nicht von der Selbstverehrung anderer abwenden zu
       können, und dann, (..) die eigenen Freunde auch nur noch über sich selbst
       reden zu hören.“
       
       Es ist, ach, eine schlimme Zeit. Die Mitmenschen: immer böser und unechter,
       bestrebt, die Verbliebenen mit ihrer Leere zu infizieren. Die „Generation
       Me“ als Ausgeburt des spätkapitalistischen Zeitgeists, ist ganz vorne
       dabei. Bald, so legen es Bücher wie das 2008 erschienene „The Narcissism
       Epidemic“ nahe, werden wir nur noch von hemmungslosen Egoisten umgeben
       sein. Oder doch nicht?
       
       Ähnlich dem Kognitionswissenschaftler Fritz Breithaupt, der in „Die dunkle
       Seite der Empathie“ (2017) die populäre Erzählung vom Einfühlungsvermögen
       als dem Guten an sich widerlegte, ist es Dombek darum zu tun, den ebenso
       allgegenwärtigen Narzissmus-Hype zu dekonstruieren. Präzise zeichnet sie
       nach, wie das Klagelied von Sigmund Freud, der 1914 im Narzissmus das
       Unheil einer dekadenten Gesellschaft erkannte, weiter gesungen wird.
       
       Sie zitiert Diagnosehandbücher und Studien, einige davon, wie das
       einflussreiche „Narcissism Epidemic“, entlarvt sie als
       Wissenschafts-Voodoo, in dem die Zählung von „Ich-Wörtern“ in Medien dazu
       dient, die Eingangsthese zu bestätigen. Was ungefähr so fake ist wie die
       Reality Show mit Allison: Die vermeintliche Ego-Königin, die Dombek
       kennenlernt, erzählt, wie das Drehbuch sie in eine möglichst krasse Rolle
       zwang. Heute ist sie verheiratet und hat eine Stiftung für benachteiligte
       Kinder gegründet – was im Narzissmusdrehbuch nicht vorkam.
       
       Was bleibt, wenn man dieses wohlige Skript verlässt, schildert Dombek am
       Ende ihres klugen, unterhaltsamen Buchs: „Und dann ist das dieses Gefühl
       von physischem Raum, ich kann plötzlich sehen, was verloren geht, wenn wir
       nicht mehr rauskommen aus dem moralischen Diagnostizieren. (…) Ich schnippe
       eine Zigarette in eine Schneewehe, und sie bohrt ein glühendes Loch und
       verscheidet. Jetzt liegt sie hinter mir, aber vor jemand anderem.“
       
       21 May 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Nina Apin
       
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