# taz.de -- Auf Wurzelsuche in Costa Rica: Oma war Rädelsführerin
       
       Bridge and Tunnel 
       
       von Ophelia Abeler
       
       Meine Tage in New York sind gezählt, im Sommer sind die fünf Jahre vorbei,
       für die meine Familie und ich an die US-Ostküste gekommen sind, dann gehen
       wir wieder zurück nach Berlin.
       
       Es spielte eine eher unbedeutende Rolle, woher ich eigentlich gekommen war,
       je nach Kontext eben, wenn überhaupt jemand in den USA ein Problem mit
       meiner deutschen Herkunft hatte, dann am ehesten ein paar orthodoxe Juden.
       Meine lateinamerikanischen Wurzeln fielen hier überhaupt nicht auf.
       Trotzdem macht das Ausland einen mehr zu dem, was man vorher schon war,
       ohne es zu merken. Es ist ein Prozess der Selbsterkenntnis, wenn man
       plötzlich von Menschen gespiegelt wird, die eben doch anders ticken, und
       sei es nur in Nuancen. Es gibt einen Reibungswiderstand, der zur Schärfung
       des eigenen Umrisses führt.
       
       In diesen letzten Monaten muss ich genau überlegen, was ich mit der Zeit
       mache, bevor vieles erneut sehr weit weg von mir sein wird, und ich habe
       beschlossen, nach Costa Rica zu fahren, das Land meiner Mutter, wo ich vor
       zwanzig Jahren das letzte Mal war, als ihre Mutter starb, meine Abuelita.
       Nie wurde meine Herkunft so thematisiert wie in meiner Kindheit in
       Deutschland auf dem Land, wo meine costa-ricanische Abstammung eine
       Teilkatastrophe war, die mich isolierte, rebellisch und stolz werden ließ.
       Zumindest dachte ich damals, dass ich rebellisch sei, weil ich abgelehnt
       wurde und mir eben immer etwas anderes einfallen musste, woraus ich Kraft
       beziehen konnte, wie zum Beispiel, mir die Schwächsten unter meinen
       Schulkameraden zu suchen und ihnen nahezu besessen beizubringen, für ihre
       Rechte zu kämpfen.
       
       Damals wollte ich nichts davon wissen, aber heute denke ich, dass vieles
       genau an meiner Herkunft liegt und ich einiges von meiner Großmutter geerbt
       habe, von der ich erst hier mehr erfahre. Die Nichte meiner Großmutter
       entpuppt sich als wandelnde Familienchronik, sie krempelt mein Bild um,
       manches, was ich als unangenehm empfunden habe, berührt mich auf einmal
       zutiefst, eine Quelle der Kraft beginnt für mich zu strömen. Meine
       Großmutter war zum großen Teil indigener Abstammung. Mir sind 14 Prozent
       Indioblut geblieben und ich habe regelmäßig das Gefühl, dass genau dieser
       Anteil angesichts von Ungerechtigkeit, Grausamkeit und Dummheit zu kochen
       beginnt, in der Ära Trump also praktisch durchgehend. Ich wusste nicht,
       dass meine Großmutter eine Rädelsführerin der Revolution von 1948 war, die
       das Fundament der heutigen Demokratie Costa Ricas gelegt hat, dass sie eine
       der ersten Frauen dieses Landes war, die wählen gingen, nachdem sie das
       Frauenwahlrecht mit durchgesetzt hatte, die Armee abgeschafft,
       Sozialversicherung und Krankenkassen etabliert, zum Erstaunen der gesamten
       Stadt einen Führerschein hatte, ihre Kinder mit dem Auto zur Schule brachte
       und als einzige Frau in der Stadtverwaltung arbeitete, einer absoluten
       Männerdomäne, und zwar als Buchhalterin, die alle Geldangelegenheiten
       regelte.
       
       ## Turmfrisur und rote Lippen
       
       Ich wusste nicht, dass sie, als ihre älteste Tochter in den Fünfzigern
       unverheiratet schwanger wurde, in einer Hauruckaktion beschloss, mit der
       gesamten Familie in die USA zu gehen, ohne ein Wort Englisch zu sprechen,
       mit nur drei Koffern und über Nacht, weil sie der Familie „die Schande“
       ersparen wollte, eine Erfindung der Kirche, von der man hätte meinen
       sollen, dass sie einer derartigen Powerfrau keine Angst einjagen konnte,
       und mein Großvater sich in alles fügte, was sie beschloss. Ich weiß erst
       ungefähr ein bisschen etwas ab dem Zeitpunkt, zu dem ich ihr erstmals
       begegnete, 1979, als sie aus den USA zurück nach Costa Rica gekehrt war und
       ich sie das erste Mal besuchte. Ich sah eine einschüchternde Frau mit
       schwarzgefärbter Turmfrisur und rotgeschminkten Lippen, von der es hieß,
       sie werfe Teller und schlage einen mit dem Ledergürtel, den sie zuvor ihrem
       Mann aus den Schlaufen ziehe, wenn man nicht spure.
       
       Diese Frau nannte mich aber auch gerne „mi amor“ und küsste mich oft und
       blieb meist bis zum Mittag im pastellfarbenen Morgenmantel. Sie fuhr einen
       knallroten Datsun Pick-up und jeder, an dem sie vorbeifuhr und dabei fast
       die Füße abfuhr, grüßte sie ehrfürchtig. Sie schien Einfluss auf das
       Wahlergebnis zu haben, denn dauernd wurde sie gefragt, wen man denn nun
       wählen solle und immer sagte sie den einen der beiden Namen, die quer über
       alle Straßen auf Bannern geschrieben waren.
       
       Jetzt, in der das Blut zum Überkochen bringenden Ära, in der Frauen in den
       USA ihren mühsam gewonnenen Boden erneut verteidigen müssen und Fremde in
       Deutschland nicht mehr gern gesehen werden, möchte ich den Geist meine
       Revoluzzer-Großmutter wachrufen. Wir müssen alle mehr so sein wie sie.
       
       Ophelia Abeler ist Kulturkorrespondentin der taz in New York
       
       30 Mar 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ophelia Abeler
       
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