# taz.de -- Daumenregel führt zu Fehldiagnosen
       
       > Medizin Das Kind hat ADHS? Eine Studie zeigt, warum solche Diagnosen
       > einer Überprüfung oft nicht standhalten
       
 (IMG) Bild: Würde ihnen heute ADHS diagnostiziert? Die kleinen Strolche, Filmhelden der 1930er Jahre
       
       Von Christina Hucklenbroich
       
       „Die ADHS-Lüge“, „Kindheit ist keine Krankheit“ oder „Die
       Kinderkrankmacher“: Die Zahl der Bücher, die kritisch hinterfragen, warum
       so viele Kinder und Jugendliche psychiatrische Diagnosen erhalten, ist
       groß. Wenige Kritiker bezweifeln ernsthaft, dass es Autismus, die
       Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) oder auch
       manisch-depressive Symptome im Kindesalter gibt. Der Vorwurf lautet aber,
       die Krankheiten seien „überdiagnostiziert“: viel zu viele Kinder erhielten
       eine Diagnose – auch diejenigen, die die Kriterien eigentlich nicht
       erfüllten und gesund seien.
       
       Über diese Kritik sind viele Ärzte und Psychologen erzürnt. Von
       wissenschaftlicher Seite haben sie ihr aber wenig entgegenzusetzen. Das
       zeigt jetzt eine große Übersichtsstudie, die in der Fachzeitschrift Child
       and Adolescent Psychiatry and Mental Health erschienen ist. Ein Team um die
       Psychologin Eva Charlotte Merten von der Ruhr-Uni Bochum hat Studien aus
       Industrieländern ausgewertet, um herauszufinden, ob unberechtigte Diagnosen
       tatsächlich die Regel sind. Ihre Studie erbrachte jedoch keine klaren
       Belege dafür, dass zu viele Kinder eine psychiatrische Diagnose bekommen
       – aber auch keine, die wirklich dagegen sprechen.
       
       Stattdessen stießen die Autoren aber auf Studien, die zeigten, dass manche
       Diagnosen Jahre später revidiert werden mussten. Die Kinder blieben krank –
       aber die Krankheit war eine andere als anfangs vermutet. Da wechselten
       beispielsweise Jugendliche, die zunächst als schizophren gegolten hatten,
       Jahre später zur manisch-depressiven Störung; in einer anderen Untersuchung
       zeigte sich bei der erneuten Begutachtung durch ein Spezialistenteam, dass
       eine Gruppe junger Patienten viel häufiger unter Tic-Störungen und Süchten
       litt, als man anfänglich festgestellt hatte.
       
       Sind häufige Fehldiagnosen also das eigentliche Problem? „Die Datenlage ist
       noch zu dünn, um das entscheiden zu können“, sagt Eva Charlotte Merten. Nur
       eine Studie habe die Frage bislang „auf eine saubere Weise untersucht.“ Sie
       erschien 2012 und stammt von einem Team um Katrin Bruchmüller von der Uni
       Basel. Die Autoren legten fast 500 Psychotherapeuten Fallbeschreibungen von
       Kindern vor. 17 Prozent der befragten Profis diagnostizierten ADHS, obwohl
       die Kriterien nicht erfüllt waren. Interessanterweise neigten die
       Teilnehmer dazu, Jungen eher ADHS zuzuschreiben als Mädchen. „Auch Experten
       treffen falsche Entscheidungen“, bilanziert Merten. Sie geht davon aus,
       dass Informationen über auffällige Kinder im klinischen Alltag oft nicht in
       standardisierter Form erfragt werden, obwohl gut belegt ist, dass eine
       unstrukturierte Befragung zu fehlerhaften Diagnosen führt.
       
       In der Forschung gelten die sogenannten strukturierten Interviews als
       „Goldstandard“ der Diagnostik. „Ärzte und Psychotherapeuten wenden
       stattdessen vielfach Daumenregeln an“, sagt Merten. „Dann fließen
       Erfahrungen ein, statt einem standardisierten Vorgehen den Vorrang zu geben
       und sich an Checklisten zu orientieren.“ Mertens Studie zählt zudem weitere
       Fehlerquellen auf: Zu wenige Informanten – Eltern oder Lehrer – werden zu
       Rate gezogen, oder die Rolle körperlicher Begleiterkrankungen wird nicht
       erkannt.
       
       Es bleibt das Problem, dass Daten fehlen, um den Vorwurf angeblich
       massenhafter „Überdiagnostik“ zu belegen: „Dass dieses wichtige Thema
       bislang kaum erforscht wurde, hat mich selbst überrascht“, sagt Merten, die
       für ihre Übersicht alle großen medizinischen Datenbanken durchforstet hat.
       
       24 Feb 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christina Hucklenbroich
       
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