# taz.de -- Staunen vor der Schöpfung
       
       > Kurz und knapp Der Reality Check im Kurzformat eröffnet eine Bilderflut
       > voll ungeahnter Perspektiven (Berlinale Shorts)
       
 (IMG) Bild: Dahinschwebende Hütten und Tiere: eine Szene aus „Everything“ von David O‘Reilly
       
       von Elise Graton
       
       Wasser. Immer wieder Wasser. Beim Sichten der fünf Programme der
       diesjährigen Sektion Berlinale Shorts fällt irgendwann auf, dass viele der
       insgesamt 23 Kurzfilme aus 19 Ländern mit Variationen des gleichen Motivs
       beginnen: Mal hält die Kamera auf das stille Blau eines Pools, mal fährt
       sie mit einem kleinen Motorboot über die vorbeiziehende See. Oft ist es
       eine Landschaft: ein Teich, ein Bach, ein spiegelglattes oder stürmisches
       Meer, das grün, grau oder schwarz schimmert. Ein gutes Viertel der von
       Maike Mia Höhne fein kuratierten, teils fiktiven, teils dokumentarischen,
       teils experimentellen Auswahl eröffnet mit Aufnahmen von Wasser.
       
       Vielleicht ist es auch gerade jetzt angemessen, sich Ozeane und Flüsse als
       beständige stumme Zeugen menschlichen Treibens zu vergegenwärtigen, als
       über den Globus verzweigte Kommunikationsnetzwerke, die wie das
       Filmprogramm Menschen und ihre Geschichten miteinander verbinden.
       
       Der somalische Flüchtling Abdi Aziis aus „Kometen“ von Victor Lindgren hat
       es über das Meer nach Schweden geschafft, wo er nun durch einen Schleier
       von Schneeregen die innere Kälte seiner Mitmenschen beobachtet. In „The
       Crying Conch“ von Vincent Toi durchquert der frühere Sklave und Rebell,
       Franswa Mackandal, ein zweites Mal den Atlantik von Guinea nach Haiti und
       staunt über die immer währenden Schranken der Gesellschaft.
       
       Gaspar, der 18-jährige Protagonist von Esteban Arrangoiz Juliens „Ensueño
       en la Pradera“ (Träumerei in der Prärie), kehrt nach einem Jahr aus den
       USA, wo er sich nie willkommen fühlte, in seine mexikanische Heimat zurück.
       Trotz der dort anhaltenden Gewalt der Kartelle, die jeglichen
       Unternehmungsgeist zum eigenen Zweck vereinnahmen, will der junge Mann es
       nochmal mit dem einfachen Leben im ländlichen Idyll versuchen.
       
       Man kann sich nicht immer aussuchen, wo man lebt – und schon gar nicht wo
       man geboren wird: Um zur Schule, zur Apotheke oder an ein warmes Essen zu
       gelangen, muss der zwölfjährige Palästinenser Muhammad Burqan aus „The Boy
       from H2“ von Helen Yanovsky immer wieder die verschiedenen Checkpoints der
       Stadt durchqueren. Als er mal dringend zur anderen Seite muss, schlängelt
       er sich einfach fluide wie eine Katze durch den Zaun. Damit überschreitet
       der Junge, dessen kindliche Entfaltung von allen Seiten beengt wird, gleich
       mehrere Grenzen. Das macht er so unbefangen und natürlich, dass man ihn
       aufmuntern möchte: „Die Welt gehört dir, du kannst alles.“
       
       ## Grenzenlose Welt
       
       Im Videospiel „Everything“ von David O’Reilly – das erste Videospiel, das
       um einen Bären für den besten Kurzfilm konkurrieren darf – ist es
       tatsächlich soweit: „Everything“ simuliert eine grenzenlose Welt, die man
       nicht nur aus allen Perspektiven bestaunen, sondern in der man auch alles
       sein kann – das Meer, ein Baum, ein Insekt, ein Regentropfen, ein Atom.
       Dabei geht es nicht um die ebenso illusorische wie kontraproduktive
       Allmacht des Individuums, sondern um Aufgeschlossenheit und Empathie. Denn
       „Everything“ fordert einem ab, sich weniger als Zentrum zu betrachten, als
       vielmehr wie der flüchtige Gast, der man im ewig kreisenden Karussell des
       Universums nun mal ist. Die Verheißung des Spieles? Freude am Staunen –
       Staunen vor der Schöpfung.
       
       Auch der unmenschliche Protagonist von Gabriel Abrantes’ „Os Humores
       Artificiais“ (Die künstlichen Humoren) staunt über die Schöpfung. Coughmann
       heißt der Roboter, der einzig aus einem kugelrunden Kopf besteht und
       konzipiert wurde, um menschliche Gefühle zu identifizieren und
       interpretieren. Dabei passiert etwas, das nicht programmiert wurde: Er
       verliebt sich.
       
       Das Prädikat „kitschig“ hat hier trotzdem nichts verloren, genauso wenig
       wie in den vielen Beiträgen der Shorts-Auswahl, die sich nicht scheuen,
       große Gefühle zu zeigen – und damit einer Welt trotzen, die als kaputt,
       verschmutzt, zynisch und artifiziell dokumentiert wird.
       
       Die schönste, überraschendste, unvergesslichste Szene der diesjährigen
       Shorts-Auswahl ist vielleicht Florian Kunert gelungen. In seinem „Oh
       Brother Octopus“ begleitet die Kamera einen Menschen und einen Oktopus, wie
       sie gemeinsam, nebeneinander her, im indonesischen Meer schwimmen.
       Friedlich und harmonisch – wenn auch nur für kurze Zeit.
       
       Bis zum 19. 2.,siehe Programm der Berlinale Shorts: www.berlinale.de
       
       10 Feb 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Elise Graton
       
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