# taz.de -- Menschenrechte in der Türkei: „Die Lage ist schlimmer als in 90ern“
       
       > Eren Keskin kämpft als Anwältin seit drei Dekaden für die Rechte von
       > Minderheiten. Gegen sie laufen derzeit 140 Gerichtsverfahren. Angst hat
       > sie trotzdem nicht.
       
 (IMG) Bild: Anwältin Eren Keskin Anfang 2017 in Istanbul
       
       ## taz.gazete: Frau Keskin, wie lebt es sich als Menschenrechtlerin in der
       Türkei?
       
       Eren Keskin: Nicht sehr einfach. Viele Mitglieder von
       Menschenrechtsorganisationen wurden bereits ermordet. Auch ich wurde
       angegriffen und bedroht. Ich kam ins Gefängnis und mir wurde ein Jahr
       Berufsverbot erteilt. Aktuell laufen diverse Gerichtsverfahren mit der
       Forderung nach lebenslanger Haft gegen mich, weil ich mich mit der Zeitung
       Özgür Gündem solidarisiere. In einem normalen Land würde so etwas nicht
       passieren, wenn nötig, werden Menschenrechtler*innen sogar geschützt. Trotz
       allem habe ich nie daran gedacht, den Kampf für Menschenrechte aufzugeben.
       
       ## Haben Sie denn keine Angst?
       
       Ja schon, aber irgendwie arrangiere ich mich damit. Wer die Angst in den
       Mittelpunkt seiner Existenz stellt, kann nicht leben. Trotz allem bin ich
       ein glücklicher Mensch. Ich tue das, was ich liebe und nutze meine Zeit für
       Dinge, die mir Freude bereiten. Ich hätte auch eine unglückliche
       Bankangestellte sein können. Unser Mut schützt uns, denn selbst ein Feind
       kann dich für deinen Mut respektieren.
       
       ## Welche Feinde meinen Sie?
       
       2001 zum Beispiel wurden wir in unserem Istanbuler Büro des
       Menschenrechtsvereins überfallen. Ein bewaffneter Mann verschaffte sich
       Zugang zu unseren Räumlichkeiten, brüllte meinen Namen: „Wo bist du, komm
       raus, alle anderen legen sich gefälligst auf den Boden“, und eröffnete das
       Feuer auf uns. Meine Freunde versteckten mich zwischen Möbeln und ich
       dachte: „Ok, jetzt sterben wir“.
       
       Plötzlich kam es zu einer Panne, die Schusswaffe des Angreifers feuerte
       nicht und ein kräftiger Kollege mit massiver Körpergröße schaffte es, ihn
       zu überwältigen. Er drückte ihn zu Boden und setzte sich auf ihn. Der
       Niedergestreckte fing diesmal an zu brüllen: „Schafft mir diesen Fettsack
       vom Leib, wir sind hier doch in einer Menschenrechtsorganisation!“
       
       ## Wie haben Sie reagiert?
       
       Wir sind alle in Gelächter ausgebrochen. Als der Überfall in der
       Öffentlichkeit bekannt wurde, kam eine Frau von Amnesty International, um
       diesen zu dokumentieren. Wir erzählten ihr die Geschichte. Als wir uns vor
       lauter Lachen nicht mehr einkriegten, sagte sie: „Ihr seid alle völlig
       verstört und braucht dringend psychologische Hilfe.“ Aber ich habe nie eine
       Therapie gemacht. Das, was uns und unsere Psyche zusammenhält, ist
       Solidarität.
       
       ## Der Prozess gegen die „Özgür Gündem“ steht exemplarisch für die aktuelle
       Lage der Meinungsfreiheit in der Türkei. Wie lautet die Anklage gegen Sie
       und wie steht es juristisch um Sie?
       
       Ich bin die Anwältin der Özgür Gündem, seit sie 1992 zum ersten Mal
       erschienen ist. Über die Zeitung habe ich einige sehr wertvolle Menschen
       kennengelernt, einer davon war der Herausgeber Musa Anter. Vom Herausgeber
       bis zu den minderjährigen Zeitungsausträgern wurden etliche Mitarbeiter der
       Özgür Gündem ermordet. Das Verlagsgebäude wurde bombardiert, unzählige
       Ausgaben eingestanzt und die Produktion gänzlich verboten, so dass die
       Zeitung unter vielen verschiedenen Namen erscheinen musste.
       
       ## Sie galten zuletzt auch als Herausgeberin der Zeitung?
       
       Ja, aus Solidaritätsgründen sollte mein Name als Herausgeberin ins
       Impressum aufgenommen werden. Ich habe das akzeptiert, weil ich den Kampf
       um Menschenrechte als Pflicht betrachte, die wir all den ermordeten
       Menschen wie Musa Anter, Ferhat Tepe oder Hüseyin Deniz schuldig sind.
       Während der sogenannten Friedensverhandlungen wurde niemand verklagt.
       
       Doch die Verhandlungen endeten schlagartig, so dass wir mit Klagen
       überhäuft wurden. Fast täglich mussten wir zur Aussage bei der
       Staatsanwaltschaft erscheinen. Nach drei Jahren liefen so viele Verfahren
       gegen uns, dass wir beschlossen, die Herausgeberschaft untereinander
       abzuwechseln.
       
       ## Bis die Zeitung endgültig geschlossen wurde.
       
       Ja, das war im August 2016. Anschließend stürmten vermummte
       Spezialeinheiten meine Wohnung. Es wurde ein Haftbefehl gegen mich
       erlassen, ich wurde zur Staatsanwaltschaft geladen, wo ich eine Aussage
       machte. Sie entließen mich unter der Bedingung aus der Untersuchungshaft,
       mich wöchentlich bei einer Polizeiwache zur Anwesenheit zu melden, denn ich
       darf das Land nicht verlassen.
       
       ## Die jährlichen Feierlichkeiten zum Beginn des juristischen Jahres, bei
       dem Richter und Staatsanwälte sich symbolisch ihre Roben anlegen, fanden im
       Präsidentenpalast quasi zu Füßen Erdoğans statt. Dies sorgte für Kritik,
       unter anderem durch Anwaltsvereine, woraufhin der Verein zeitgenössischer
       Anwälte (Çağdaş Hukukçular Derneği) und der Verein Anwälte für den Frieden
       (Özgürlükçü Hukukçular Derneği) geschlossen wurden. Es heißt, diese
       Entscheidung stammt direkt aus dem Palast. Was sagen Sie dazu?
       
       Ich finde es nicht richtig, anzunehmen, alle Entscheidungen kämen direkt
       aus dem Palast oder von Erdoğan. Dass das alles soweit kommen konnte, hat
       mit den seit Langem vorhandenen Strukturen zu tun. Ob wir diese nun
       Konterguerilla, Special Warfare Department oder tiefer Staat nennen: Die
       heutigen Zustände sind ein Resultat daraus, dass Erdoğan sich mit diesen
       altbewährten, geheimen Organisationen einigen konnte.
       
       Falls aber das Einvernehmen zwischen ihnen bröckelt, wird es Erdoğan sein,
       der geht. Denn diese eiserne Struktur hinter dem Staat wird garantiert
       nirgendwohin gehen. Auf diese Weise wird auch die Opposition klein
       gehalten. Sobald diese Haltung zeigt, werden Vereine, Stiftungen und
       Presseorgane verboten. In den Gefängnissen sitzen hunderte
       Journalist*innen. Akademiker*innen werden entlassen, ihre Konten
       eingefroren und Besitztümer beschlagnahmt. Die Menschen haben keine
       Möglichkeit mehr, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
       
       ## Wie steht es um die Türkei, wenn Sie die aktuelle Lage mit den 1990er
       Jahren vergleichen?
       
       Menschen, die in Untersuchungshaft verschwanden, und Konterguerilla-Morde
       waren in den 1990er Jahren weit verbreitet. Allerdings wurden die Menschen
       einzeln ermordet. Heute hingegen wird in Massen getötet. Früher wurden
       entlegene Dörfer in Brand gesteckt, heute ganze Städte in Schutt und Asche
       gelegt. Es gibt immer noch Familien, die niemals die sterblichen Überreste
       ihrer Angehörigen erhielten.
       
       Wenn wir verklagt wurden, konnten wir uns verteidigen und wurden solange
       nicht ins Gefängnis gesteckt, bis die Klage vor Gericht verhandelt wurde.
       Heute hingegen werden die Menschen gleich nach ihrer ersten Vernehmung
       festgenommen. Man wird ohne Prozess inhaftiert. Was die Meinungsfreiheit
       angeht, steht es heute weitaus schlechter als in den 1990er Jahren. Die
       Regierung und der tiefe Staat waren noch nicht so sehr miteinander
       verwoben. Daher ist die aktuelle Situation weitaus ernster. Und aufgrund
       des ausgerufenen Ausnahmezustands können wir nicht den geringsten
       Widerspruch einlegen.
       
       ## Finden Sie die Kritik aus Europa an den Verhältnissen in der Türkei
       ausreichend?
       
       Die Türkei verstößt gegen viele europäische und internationale
       Menschenrechtsabkommen, und Europa verlangt nicht einmal deren Einhaltung.
       Stattdessen wird ein unmoralisches Geschäft auf dem Rücken von geflüchteten
       Menschen ausgetragen.
       
       ■ Zur Person: Eren Keskin ist Anwältin, Menschenrechtlerin und zweite
       Vorsitzende der türkischen Menschenrechtsorganisation IHD. Sie gründete das
       Rechtshilfebüro gegen sexuelle Misshandlungen und Vergewaltigungen in Haft
       und ist bekannt für ihren Einsatz in diversen Bereichen der
       Menschenrechtsarbeit, so zum Beispiel für die Samstags-Mütter, die Arbeit
       zur Erinnerungskultur am Genozid an den Armeniern, der Gay-Pride und die
       Verteidigung politischer Prozesse.
       
       Gegen Keskin laufen 140 Gerichtsverfahren, unter anderem wegen der
       Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation und der Verbreitung
       staatsfeindlicher Propaganda. Bereits früher wurde sie wegen „Beleidigung
       des Türkentums“ zu Haftstrafen verurteilt und hat derzeit Ausreiseverbot.
       Internationale Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International
       fordern Straffreiheit für Keskin und haben Solidaritätskampagnen gestartet.
       
       26 Jan 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hrant Kasparyan
       
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 (DIR) UN zur Menschenrechtslage in der Türkei: Im Südosten wenig Beachtung
       
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