# taz.de -- Martina sieht man nie weinen
       
       > Theater Bilder von Terror verkaufen sich gut. In „Vereinte Nationen“,
       > einem Theaterstück von Clemens J. Setz, wird das über ein Familiendrama
       > erzählt. Tim Egloff hat es in Mannheim inszeniert
       
 (IMG) Bild: Die Kamera schaut immer zu in „Vereinte Nationen“
       
       Wenn sich etwas an der „Elternallianz“ ändere, müsse er das wissen, meint
       der dubiose Geschäftsmann Oskar (David Lau) und fixiert seinen Freund und
       Kollegen Anton (David Müller). Dann nämlich müsse das künstlerische Konzept
       geändert werden, das darauf basiert, dass Familienvater Anton sich und
       seine kleine Tochter Martina, gespielt von Kinderschauspielerin Holly
       Bratek, in alltäglichen Situationen mit versteckter Kamera filmt. Diese
       Szenen verkauft Oskar weiter an einen kleinen Kreis von Kunden. Deren
       Nachfrage steigt rapide, als Anton beginnt, grenzwertigen Wunschsituationen
       der Interessenten nachzukommen, in denen Martina beispielsweise willkürlich
       bestraft werden soll und als Strafmaßnahme eine ungenießbare Mahlzeit
       aufessen muss. Dabei wird sie ohne ihr Mitwissen gefilmt.
       
       Um diesen perfiden Konflikt zwischen elterlicher Macht und Profitgier auf
       Kosten des eigenen Kindes dreht sich „Vereinte Nationen“ von Clemens J.
       Setz. Es ist das erste Theaterstück des erfolgreichen Nachwuchsautors,
       dessen Romane schon für den deutschen Literaturpreis nominiert waren.
       Entstanden ist der Text im Rahmen des Werkauftragfestivals „Frankfurter
       Positionen“, das sich in diesem Jahr mit dem Thema „ICH Reloaded – Das
       Subjekt im digitalen Netz“ auseinandersetzt.
       
       ## In der Doppelhaushälfte
       
       Entgegen der Erwartung, dass sich diese digitale Gegenwart in einer medial
       vermittelten Inszenierung von Tim Egloff niederschlagen könnte, folgt das
       Publikum im Studio des Mannheimer Nationaltheaters eher der Ästhetik eines
       konventionellen Familiendramas. Da dreht sich die reduzierte Form der
       Doppelhaushälfte wie der erkaltete Traum vom Eigenheim auf der Bühne. Das
       Licht ist so wärmend wie die Leuchtanzeige auf einem Smartphone, die
       Atmosphäre steril und die Transparenz der Privatsphäre hoch. Anstelle von
       Wänden finden sich Plexiglasscheiben, die das Einfamilienheim wie ein
       Aquarium wirken lassen.
       
       Die moralisch geartete Kundenanpassung von Anton wird ergänzt durch die
       Kaltherzigkeit von Mutter Karin, die Anne-Marie Lux konstant unnahbar und
       berechnend spielt. Ihr unternehmerisches Interesse an der lukrativen
       Vermarktung des eigenen Kindes garantiert den sozialen Aufstieg. Dieser
       wird deutlich markiert durch mehrfache Kostümwechsel, in denen Sneakers
       gegen Highheels und Jeans gegen Bundfaltenhosen eingetauscht werden. Alles
       im Blau der Flagge der Vereinten Nationen.
       
       Man kann über das konsequent eingesetzte Blau ebenso stolpern wie über den
       Stücktitel und ungewöhnlich platzierte, politische Begriffe. Die Eltern
       sind eine „Allianz“, das Kind verfügt über „Ressourcen“ und Ungehorsam gilt
       als „strategisches“ Vorgehen. Aber wo findet sich der weltpolitische
       Kontext jenseits des Familiendramas, das in Tim Egloffs Inszenierung eher
       betont wird?
       
       ## Inszenierung verschleiern
       
       Die Antwort liegt möglicherweise in den Machtstrukturen des Systems, dem
       Martinas Eltern ihre Tochter aussetzen. Ob Bestrafungssituationen
       inszeniert sind wird verschleiert, und das macht das Auftauchen von Gewalt
       unberechenbar. Ein System, das Angst vor dieser Willkürlichkeit produziert,
       fußt auf Terror.
       
       Gerade 2016 ist die Welt verstärkt von Terror geprägt gewesen, aber es wäre
       naiv, die Weltbevölkerung mit der kleinen Martina gleichzusetzen und sich
       zur verschwörungstheoretischen Annahme verleiten zu lassen, der Terror des
       letzten Jahres sei eine Inszenierung zur Bereicherung mächtiger
       Fadenzieher. Wie schwierig allerdings die Unterscheidung von Wirklichkeit
       und Inszenierung in einer von Angst geprägten Zeit ist, in der über Bilder
       medial kommuniziert wird und Bilder instrumentalisiert werden, dürfte
       besonders das letzte Jahr gezeigt haben.
       
       „Stell dir vor“, sagt dann auch Anton in einer Szene zu Karin, „wenn dir
       jetzt irgendwer etwas total Obszönes am Nachthimmel zeigt … und du siehst
       es ab dem Zeitpunkt immer …Könntest du den Typen verklagen? Weil, im Grunde
       könnte er das ja ins Internet stellen und die ganze Menschheit wäre
       gezwungen, wenn sie in den Nachthimmel schaut, diesen Scheiß zu sehen.“
       
       Was aber geschieht mit einem Subjekt, dass Wirklichkeit und Inszenierung
       kaum noch unterscheiden kann und lernt, mit dem Terror zu leben? Die kleine
       Martina sieht man nie weinen. Sie wird mehr und mehr zum dekorativen,
       manipulierbaren Subjekt. Diese dystopische Aussicht auf „ICH Reloaded – das
       Subjekt im digitalen Netz“ geht dann aber doch über die Grenzen des
       perfiden Familiendramas hinaus. Judith Engel
       
       18 Jan 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Judith Engel
       
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