# taz.de -- Sterbefasten: „Ich glaub, jetzt bin ich tot.“
       
       > Christiane zur Niedens Mutter aß und trank 13 Tage lang freiwillig nicht.
       > Die Familie unterstützte sie dabei. Im Interview spricht die Tochter
       > darüber.
       
 (IMG) Bild: Christiane zur Niedens Mutter aß und trank 13 Tage lang nicht. Sie starb, weil sie es wollte, unterstützt von der Familie
       
       Seit Dezember 2015 ist geschäftsmäßige Sterbehilfe in Deutschland verboten.
       Doch was ist geschäftsmäßig? Fällt darunter auch die Arbeit von
       Palliativmedizinern und Sterbebegleitern? Was ist erlaubt? Christiane zur
       Nieden findet, es gibt Aufklärungsbedarf. Ihre Mutter hatte mit 88 Jahren
       entschieden, dass sie nicht mehr essen und trinken will, und das
       durchgehalten. 13 Tage später starb sie an Nierenversagen. Die ganze
       Familie, darunter auch zur Niedens Mann Christoph, ein Palliativmediziner,
       begleitete die Mutter in ihren letzten Tagen. Christiane zur Nieden hat das
       Sterbefasten ihrer Mutter in einem Buch öffentlich gemacht.
       
       taz.am wochenende: Frau zur Nieden, wie denken Sie heute an Ihre Mutter? 
       
       Christiane zur Nieden: Ich bin stolz auf sie.
       
       Warum? 
       
       Weil sie auf eine tolle Art mit dem Sterben umging. Erstens war sie
       felsenfest überzeugt: Ich will sterben. Sie hat sich nicht abbringen
       lassen. Sie wusste aber auch, dass wir auf jeden Fall zu ihr stehen. Und
       sie hat diese 13 Tage Sterben mit Bravour gemeistert. Sie war fröhlich,
       freundlich, sie ging auf unsere Ideen ein. Wir haben uns bei ihr bedankt,
       wir haben uns bei ihr entschuldigt, wir haben gesagt, was nicht gut
       gelaufen ist.
       
       So eine Auseinandersetzung konnten Sie führen? 
       
       Ja, und sie hat uns auch gesagt, was aus ihrer Sicht schlecht gelaufen war.
       Mit einem Lächeln. Es war kein Vorwurf. Wir konnten uns unwahrscheinlich
       schön von ihr verabschieden. Alle, wir, die Kinder, die Enkel.
       
       Wenn Sie so erzählen, klingt das nach fröhlichem Sterben. 
       
       Darum geht es nicht. Ich sehe, dass der Umgang mit dem Sterben in weiten
       Teilen ein Tabu ist. Aber Leben geht nicht ohne Sterben. Deshalb ist es
       wichtig, das Lebensende mit zu bedenken.
       
       1532: In der Constitutio Criminalis Carolina, dem ersten deutschen
       Strafgesetzbuch, wird geregelt, aktive Sterbehilfe sei wie Mord zu
       bestrafen
       
       Wer will das aber schon? 
       
       So zu tun, als könne man sich vor dem Sterben drücken, geht nicht. Wer zu
       Lebzeiten darüber redet, hat weniger Angst. Jeder hat Eltern, oft sterben
       sie vor einem. Man muss erst die Kinder groß kriegen und dann die Eltern
       gut in den Tod begleiten. Das ist eine Herausforderung.
       
       Warum wollte die Mutter sterben? 
       
       Sie hatte ununterbrochen Schmerzen. Sie hatte 27 Jahre lang Kunsthüften.
       Die hätte sie nach 15 Jahren erneuern müssen, aber sie zögerte, und
       irgendwann war sie 88, die Kunsthüften waren wacklig. Mit Morphiumpflaster
       konnte sie gerade noch ein wenig gehen, sich aber nicht mehr bücken, nichts
       tragen, keine Treppen steigen. Alles war für sie beschwerlich, alles tat
       weh. Sie war lebenssatt, müde vom Leben.
       
       Was ist an jenem Rosenmontag 2010 genau passiert? 
       
       Es ging Mama nicht gut, sie lag bei uns auf dem Sofa, und dann sagte sie,
       sie möchte sterben. Sie fragte, ob mein Mann ihr eine Spritze geben kann.
       „Nein, Mama, das geht nicht.“ Da fragte sie, wie würdest du es machen? Und
       ich sagte ihr, dass ich nichts mehr essen und trinken würde.
       
       Tags darauf hat sie aufgehört zu essen und zu trinken? 
       
       Am nächsten Morgen fanden wir sie ganz benommen. Sie hatte Schlaftabletten
       geschluckt. Aber nur vier Stück. Sie hatte mich vorher gefragt, ob es mit
       Schlaftabletten ginge, ich sagte, das bringt nichts, nicht mit deinen, da
       wird dir schlecht, da erstickst du eventuell am Erbrochenen, das ist ein
       schrecklicher Tod. Aber sie wollte ihren Sterbeprozess in Gang setzen,
       indem sie Schlaftabletten nimmt. Dann haben wir fast zwei Tage gebraucht,
       sie zu überzeugen, es sein zu lassen und dass wir sie unterstützen: „Wenn
       du unbedingt sterben willst, hör auf mit den Tabletten. Wir wollen mit dir
       sprechen.“ – Mit vier Schlaftabletten, da lallen Sie nur rum. „Okay“, sagte
       sie, „aber schafft man es überhaupt, wenn man nicht mehr isst und trinkt?“
       Und da sagten wir: ja.
       
       1871: Im Reichsstrafgesetzbuch wird geregelt: Tötung auf Verlangen ist mit
       „Gefängnis nicht unter drei Jahren“ zu bestrafen. Nicht verboten: Beihilfe
       zum Suizid
       
       Woher wussten Sie, dass das eine Art ist, zu sterben? 
       
       Ich mache seit 30 Jahren Sterbe- und Trauerbegleitung. Es gab immer wieder
       Patienten von meinen Mann, wo er sah: Da liegt einer im Sterben, die
       Familie schafft es nicht. Er fragte mich: „Kannst du da hingehen?“ So fing
       ich mit der Sterbebegleitung an. Und oft sah ich: Menschen hören auf zu
       essen, wenn sie merken, dass sie bald sterben. Sie werden nur von nicht
       informierten Angehörigen mitunter zum Essen und Trinken gezwungen.
       
       Kann man jemanden zum Essen und Trinken zwingen? 
       
       Es ist im Grunde Körperverletzung.
       
       Aber der Mutter sagen, dass sie ohne Nahrung und Flüssigkeit sterben kann –
       ist das gewöhnlich? 
       
       Wir haben eben immer schon über Sterben gesprochen. Mein Vater ist so
       schwierig gestorben mit einem Gehirntumor.
       
       Hat Ihre Mutter wirklich nicht nur aufs Essen verzichtet, sondern auch aufs
       Trinken? 
       
       Mit Flüssigkeit dauert der Sterbeprozess länger. Verhungern dauert mehrere
       Wochen. Wenn Sie aber auch nichts trinken, sterben Sie nicht an Auszehrung,
       sondern an Nierenversagen. Ohne Flüssigkeit sammeln sich die Gifte im
       Körper und führen allmählich zu einer Schläfrigkeit, die in einen komatösen
       Zustand übergeht, der wiederum übergeht in den Tod. Ein schönes Sterben,
       wenn Sterben schön sein kann.
       
       Weil es schmerzlos ist? 
       
       Man weiß, dass es in der Phase, wo man einschläft, schmerzlos ist.
       Nierenversagen ist in der Regel schmerzlos.
       
       Sie haben viele Sterbende begleitet. Kann Sterben wie ein Wunder sein? 
       
       Geburt und Sterben sind die einzigen Vorgänge im Leben, die uns sicher
       sind. Die Begleitung dabei ist das A und O. Ins Leben rein, aus dem Leben
       raus. Und wenn jemand, der geht, noch ansprechbar ist, ist es wichtig,
       alles anzusprechen. Die ersten Tage, als meine Mutter sich weigerte, zu
       essen und zu trinken, ging es mir nicht gut. Ich hatte Angst; schaffe ich
       das Sterben meiner Mutter?, fragte ich. Wenn ich sonst zu Sterbenden ging,
       konnte ich das schon souverän tun. Da hat mich das Leid zwar gepackt, aber
       nicht runtergezogen. Bei meiner Mutter, da musste ich mich damit
       auseinandersetzen: Jetzt ist es so weit. Ich muss sie gehen lassen.
       Manchmal rief Mama vom Schlafzimmer aus zu uns in die Küche: „Ach, riecht
       das lecker nach Kaffee.“ Da sagten wir: „Mama, komm, wir holen dich, du
       kannst jederzeit zu uns zurück ins Leben.“ Immer antwortete sie: „Nein, ich
       will nicht.“
       
       Sie hat sich vom Geruch des Kaffees nicht zum Leben verführen lassen? 
       
       Aufs Essen zu verzichten war für sie leicht. Sie war ja dünn, 45 Kilo.
       Jedes Kilo mehr ist ein Problem bei wackligen Kunsthüften. Nicht zu trinken
       ist ein größeres Problem.
       
       Benutzen Sie das Wort „verdursten“? 
       
       Nein, das sagen wir nicht.
       
       Vorher sprachen Sie von verhungern. 
       
       Wenn man Sie irgendwo einsperrt und gibt Ihnen nur Wasser, dann verhungern
       Sie. Aber Sterbefasten ist kein Verhungern, bei dem man sich so elende
       Zustände vorstellen muss. Wenn Sie bewusst und freiwillig diesen Schritt
       gehen und nichts mehr essen, wie man es auch beim Heilfasten macht, dann
       kommt es nach zwei Tagen zur Endorphinausschüttung. Die ist
       schmerzlindernd, stimmungsaufhellend und stabilisierend.
       
       1933: Die Nazis wollen Tötungen durch Ärzte ermöglichen. Während der
       NS-Zeit bleibt die „Tötung auf Verlangen“ aber letztlich strafbar
       
       Hat man das bei Ihrer Mutter gemerkt? 
       
       Sicher. Sie war super drauf, hat gelacht, Witze gemacht. Wenn nach zwei
       Tagen die Endorphinausschüttung beginnt, geht der Hunger weg. Das wissen
       alle, die heilfasten, aber es funktioniert nur, wenn man es freiwillig
       macht. Hätte ich gesagt: „Mama, gut, du stirbst jetzt, ich gebe dir nichts
       mehr zu essen und zu trinken“, sie hätte es aber gern noch gemacht, hätte
       sie keine Endorphinausschüttung gehabt und nicht diese positiven Gefühle
       erlebt. Dann wäre es richtig ein Verrecken.
       
       Das Bewusstsein steuert die Endorphinausschüttung? 
       
       Das ist erwiesen. Wenn Depressive nicht mehr leben wollen und Sterbefasten
       machen, kann es sein, dass sie nach ein paar Tagen durch die
       Endorphinausschüttung positiv stimuliert werden und sagen: Ich möchte
       wieder essen.
       
       Erklärt das auch, warum [1][Magersüchtige] so gern fasten? 
       
       Genau. Es hat Suchtpotenzial, weil es so positiv ist, auch positiv beim
       Sterbeprozess. Dank der Endorphinausschüttung kann man das gut durchhalten.
       
       1942: Die Schweiz erlaubt „assistierten Suizid“. Später bilden sich
       gemeinnützige Vereine, die diese Art der Sterbehilfe anbieten
       
       Was ist mit dem Durst? 
       
       Es gibt einen Film, „Freiheit zum Tod“, über das Sterben von Marion M. Sie
       war eine 56-jährige Schwerstkranke, die mit Sterbefasten ihr Leben
       beendete. Sie hat am Tag 400 Milliliter durch Eiswürfel zu sich genommen.
       Sie wollte immer noch reden, das Gehirn braucht Flüssigkeit, sonst kann man
       nicht denken. Mama war das egal, Mama wollte, damit sie uns nicht so
       belastet, die kürzeste Zeit haben. Sie hat am Tag nur 50 Milliliter durch
       die Mundpflege zu sich genommen.
       
       Wie geht die Mundpflege? 
       
       Im Mundraum sind die Rezeptoren für das Durstgefühl. Wenn die Schleimhäute
       und der Rachen feucht sind, wird an den Kopf weitergegeben: genug
       getrunken. Deshalb brauchen Sterbefastende in der letzten Phase dringend
       Begleitung. Eine gute Mundpflege bedeutet kein oder wenig Durstgefühl. Für
       junge Menschen gilt dieser Mechanismus nicht. Sie haben einen so hohen
       Wasserbedarf, damit der Körper funktioniert, da wird das echt zur Qual. Das
       ist nur für Hochbetagte und Schwerkranke möglich. Bei Marion M. hat das
       Sterben 21 Tage gedauert. Mit der Menge der Flüssigkeitsgabe hat man im
       Grunde in der Hand, wie lange der Prozess dauert.
       
       Ihr Mann ist Arzt und begleitete den Sterbeprozess der Mutter. Wurde ihm
       [2][unterlassene Hilfeleistung] vorgeworfen? 
       
       Überhaupt nicht. Die Selbstbestimmung ist im Grundgesetz geschützt. Es war
       die Entscheidung meiner Mutter, sie ist durch ihre Patientenverfügung
       gesichert. Sie war frei verantwortlich, davon hat sich mein Mann überzeugt.
       
       Gleichzeitig war Ihr Mann verpflichtet, Ihre Mutter palliativ zu betreuen. 
       
       Jemand, der im Sterbeprozess ist, hat Anspruch auf palliative
       Basisversorgung. Dazu gehören Schmerztherapie, Symptomkontrolle und
       spirituelle Begleitung. Als Palliativmediziner muss man auch die seelischen
       und geistigen Bedürfnisse berücksichtigen. Man nennt den ganzheitlichen
       Anspruch total care. Medizin sollte diesen ganzheitlichen Anspruch auch
       haben. Das ist ja das Schlimme, dass sie es nur noch im palliativen Bereich
       hat.
       
       1973: In den Niederlanden wird der Fall einer Ärztin verhandelt, die ihre
       Mutter mit Morphium erlöste. Die Debatte führt 2001 zur
       Sterbehilfe-Legalisierung
       
       Bezahlt die Krankenkasse in der Palliativmedizin diesen ganzheitlichen
       Ansatz? 
       
       Ja. Die Palliativmedizin wird hochgehalten, weil sie so gut versorgt, dass
       sie den Todeswunsch kaum aufkommen lässt.
       
       Bei Ihrer Mutter kam der Todeswunsch aber doch auf. 
       
       Meine Mutter wurde zwar palliativmedizinisch betreut, auch bevor sie
       entschieden hatte zu sterben. Sie hatte Schmerzpflaster, sie ist von uns
       versorgt worden, trotzdem hatte sie keine Lust mehr auf das Leiden, die
       Einschränkungen. Alles, was sie als Lebensqualität betrachtete,
       selbstständig sein, mobil, Anteil nehmen am Leben, ging nur, wenn man ihr
       half. Sie fragte: „Was soll noch kommen?“ Ins Heim wollte sie nicht. Zu uns
       auch nicht. Sie wollte ihre Selbstständigkeit bis zuletzt.
       
       Sie haben ein Buch über den Sterbeprozess Ihrer Mutter geschrieben;
       „Sterbefasten“ heißt es. Die zugrunde liegende Forderung ist der Respekt
       vor dem Selbstbestimmungsrecht des Menschen über seinen Körper. 
       
       Und über sein Ende. Und es ist uns klar, dass das, rein juristisch gesehen,
       Suizid ist. Ich habe das Buch auch geschrieben, weil ich wollte, dass
       Hochbetagte und Schwerkranke wissen, dass es eine Möglichkeit gibt, seinem
       Leben ein Ende zu setzen, ohne dass man vor den Zug geht oder von der
       Brücke springt.
       
       2015: In Deutschland wird das im Kern seit 1871 geltende Recht erweitert.
       Auch die Förderung der Selbsttötung ist nun großenteils verboten
       
       Heißt es in der Sterbeurkunde dann Suizid? 
       
       Nein, da steht: natürlicher Tod. Anfänglich ist es ein Suizid, der aber in
       einen natürlichen Tod übergeht.
       
       Werbung für Suizid ist verboten. Wo steht da das Buch? 
       
       Ich will nicht werben. Ich will den Menschen nur sagen: Wenn es nicht mehr
       weitergeht, gibt es eine andere Möglichkeit. Nicht viele Menschen werden
       diese Möglichkeit nutzen wollen und können. Man braucht ein familiäres oder
       freundschaftliches Umfeld, das einen unterstützt und bereit ist, zwei oder
       drei Wochen neben einem zu sein. Und Sie brauchen ein absolutes
       Durchhaltevermögen. Zwei oder drei Wochen, das ist schon eine lange Zeit.
       Aber was ich so schön fand, war – wir haben es geschafft, weiß nicht, warum
       –, diese 13 Tage wunderbar zu füllen. Wir haben mit meiner Mutter
       gesprochen, haben Alben durchgeguckt, haben uns um ihre Freunde gekümmert,
       damit sie sich verabschieden konnten, sie hat den Schmuck verteilt, wir
       haben ein Familiengeheimnis gelüftet.
       
       Welches? 
       
       Dass sie Friseuse war. Niemand durfte das wissen, weil mein Vater ein
       studierter Mann war. Er wollte nicht, dass man weiß, seine Frau war nur
       Friseuse. Das kam nicht traurig, sondern fast fröhlich zutage, Mama sagte
       nur lachend: „Wie, das wusstet ihr nicht?“ Sie wusste ganz genau, dass sie
       es uns nie gesagt hatte.
       
       Haben Sie das Wort „Sterbefasten“ erfunden? 
       
       Nein. In einem alten hinduistischen Buch kommt es schon vor.
       
       Tangiert die Veröffentlichung Ihres Buchs nicht [3][Sterbehilfeszenarien]
       des § 217, wie sie im November 2015 verboten wurden? 
       
       Doch, klar. Wir haben bei einem Suizid begleitet. Aber die Begleitung ist
       im Gesetz straffrei unter bestimmten, in § 217 formulierten Bedingungen.
       
       Letztes Wegstück 
       
       „Zwei Tage vor ihrem Tod sagte sie: Ich glaub, jetzt bin ich tot. Und ich:
       Nein, Mama, da ist noch Leben in dir, aber es dauert nicht mehr lange. Sie:
       Ach, dann ist ja gut“ Christiane zur Nieden über das Sterben ihrer Mutter 
       
       Solange sie nicht kommerziell ist, oder welche Bedingungen meinen Sie? 
       
       Solange sie nicht geschäftsmäßig ist. In Absatz 2 heißt es, dass es für
       Angehörige straffrei ist.
       
       Auch Sterbehilfeorganisationen etwa in der Schweiz sagen, sie machen das
       nicht geschäftsmäßig. 
       
       Sie sagen, sie machen es nicht gewerbsmäßig. Gewerbsmäßig ist, wenn man
       Geld bekommt. Geschäftsmäßig, wenn es auch ohne Bezahlung auf Wiederholung
       angelegt ist. Das Gesetz wollte eigentlich nur die Gewerbsmäßigkeit
       treffen, aber das Wort „geschäftsmäßig“ wird jetzt wie „gewerbsmäßig“
       ausgelegt, weil es Wiederholung einbezieht. Wir hatten wirklich das Gefühl,
       dass die Abgeordneten nicht wussten, was sie da machen, als sie den § 217
       beschlossen. Sie wollten die professionellen Sterbehelfer treffen, sie
       haben das aber so formuliert, dass es in einem Rundumschlag die
       Palliativmedizin und die Hospizbewegung mit trifft.
       
       Wie? 
       
       Obwohl ehrenamtliche Hospizlerin, mache ich Sterbebegleitung ja
       geschäftsmäßig, weiles auf Wiederholung angelegt ist. Also dürfte ich jetzt
       keinen mehr begleiten, der sich für das Sterbefasten entscheidet. Wenn der
       einsam ist, müsste ich sagen: „Tut mir leid, Gesetz ist da, sterben Sie
       bitte allein, entweder schaffen Sie es oder nicht.“ Das ist ein unmöglicher
       Zustand. Im Grundgesetz steht, wir haben das Recht auf Selbstbestimmung;
       das darf nicht durch die Hintertür kriminalisiert werden. Niemand stirbt
       freiwillig aus Jux und Dollerei. Deshalb halten wir dieses Buch für
       wichtig. Damit man, wenn man Suizid begehen will, in seiner Verzweiflung
       nicht vor einen Zug springt und andere dabei traumatisiert oder ein
       Flugzeug in den Berg krachen lässt.
       
       „Geh rüber, setz dich rüber ins Wohnzimmer, ruh dich ein bisschen aus, und
       ich sterbe noch ein bisschen“, sagte die Mutter von Christiane zur Nieden 
       
       Bewegen Sie sich mit Ihrem Buch jetzt in einer Grauzone? 
       
       Solange das vom Bundesverfassungsgericht nicht geklärt ist, ja. Es wäre
       eine Möglichkeit, das Sterbefasten auszunehmen, weil es kein aktiver,
       sondern ein passiver Suizid durch Unterlassen ist, der dann in einen
       natürlichen Sterbeprozess übergeht. Es ist klar: Der Entschluss meiner
       Mutter ist ein suizidaler gewesen, aber ansonsten unterscheidet sich das
       von allen anderen Suizidarten.
       
       Es scheint wie eine Art Hintertür, wie die bessere Methode, wenn man sich
       das Leben nehmen will. 
       
       Es ist eine Methode, bei der Sie niemanden brauchen, der Ihnen was besorgt
       oder gibt. Sondern Sie brauchen jemanden, der Ihnen die Mundpflege macht.
       Meine Mutter war nicht fit, sie lag die ganze Zeit im Bett, aber diese
       Marion M. in dem Film, die ist noch rumgelaufen und hat dem Arzt fast bis
       zum Schluss die Tür geöffnet, hat sich selbst geduscht, die Mundpflege
       selbst gemacht. Sie brauchen beim Sterbefasten niemanden, der Ihnen etwas
       verabreicht, sondern Sie verzichten auf etwas.
       
       Gesetzeslage seit 2015 
       
       Verboten: 2015 beschloss der Bundestag (360 Ja, 233 Nein, 9 Enthaltungen),
       dass geschäftsmäßig betriebene Suizidbeihilfe, wie sie etwa von
       Sterbehilfevereinen angeboten wird, unter Strafe steht: „Wer in der
       Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu
       geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird
       mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“ (§
       217). Tötung auf Verlangen des Getöteten und der Versuch sind ohnehin
       strafbar (§ 216). 
       
       Erlaubt: Suizidbeihilfe leisten dürfen Angehörige sowie andere, die nicht
       regelmäßig oder auf Wiederholung angelegt handeln. 
       
       Trotzdem fürchteten Sie eine Zeit lang, dass Sie wegen Ihres Buchs belangt
       werden können. 
       
       Wir haben mit einem Strafrechtler Kontakt, der sagt, es sei kein Problem,
       da wir Meinungs- und Pressefreiheit haben. Dem vertrauen wir jetzt. Wissen
       Sie, in Deutschland ist der Suizid straffrei. Wenn die Haupttat straffrei
       ist, dann muss die Beihilfe auch straffrei sein. Durch die Hintertür hat
       jetzt die Regierung Strafe reingebracht. Auch bei der versuchten Beihilfe
       übrigens.
       
       Leute der Sterbehilfeorganisationen sagen, wenn jemand weiß, es gibt einen
       sicheren Weg zum Tod, wendet er sich dem Leben zu. Haben die recht? 
       
       Es ist doch so: Wenn du eine Tür hast, wo immer „Exit“ leuchtet, dann
       brauchst du sie nicht. Die am besten verschlossene Tür ist die offene.
       
       Gab es ambivalente Gefühle? Waren Sie je dankbar und froh, dass Ihre Mutter
       diesen Weg wählte und so vermied, ein Pflegefall zu werden? 
       
       Klar, als meine Mutter tot war, hatte ich unwahrscheinlich viel Zeit, und
       ich dachte: Du bist richtig befreit. Dann kam ein Loch, als ich merkte, die
       Befreiung ist nur eines, das Fehlen ist etwas viel Größeres.
       
       Die Frau: Zur Nieden ist Heilpraktikerin für Psychotherapie, Mitarbeiterin
       in der Arztpraxis ihres Mannes und seit 25 Jahren ehrenamtliche
       Sterbebegleiterin. 
       
       Das Buch: „Sterbefasten. Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit
       – Eine Fallbeschreibung“ erschien 2016 im Mabuse-Verlag und kommt demnächst
       in zweiter Auflage heraus. 
       
       Hatten Sie dann Schuldgefühle? 
       
       Jeder, der jemanden verliert, den er liebt, hat das Gefühl, er hätte mehr
       tun können. Aber wenn man die Chance hat, über alles zu reden, ist das das
       Genialste, was es gibt. Für mich waren diese letzten 13 Tage mit meiner
       Mutter das Wertvollste, was wir hatten.
       
       Eine kraftvolle Aussage. 
       
       Weil wir jede Minute bewusst gelebt haben und alle Tabus gebrochen wurden.
       Wertvoll ist auch die Spiritualität, die im Sterben liegt, wenn man bereit
       ist, sie zu erkennen.
       
       In Ihrem Buch steht, dass der Tod in den letzten Stunden schon im Zimmer
       war. Wie haben Sie ihn gespürt? 
       
       Da ist eine ganz besondere Stimmung, eine Aura. Wenn man bei einem
       Sterbenden dabei ist und er den letzten Atemzug macht, dann hat das etwas
       Erhebendes. Da kriegen Sie Gänsehaut, das ist so besonders, das ist mit
       keiner anderen Situation, die man im Leben haben kann, vergleichbar. Man
       merkt, wie das immer weniger, immer entfernter wird in dem Menschen, aber
       trotzdem ist er noch da. Und da wir wissen, dass das Gehör und das Fühlen
       die letzten Sinneswahrnehmungen sind, die noch funktionieren, kann man
       damit noch etwas geben. Ich habe bei Mama so ein Mantra gesungen, das sie
       gern mochte. Meine Mutter war so goldig; etwa wenn ich bei ihr war und sie
       sagte: „Geh rüber, setz dich rüber ins Wohnzimmer, ruh dich ein bisschen
       aus, und ich sterbe noch ein bisschen.“ Toll fand ich auch, wie sie so zwei
       Tage vor ihrem Tod zu mir sagte: „Ich glaub, jetzt bin ich tot.“ Und ich:
       „Nein, Mama, da ist noch ein bisschen Leben in dir, aber es dauert nicht
       mehr lange.“ Sie: „Ach, dann ist ja gut.“ Und dann hat sie noch mal
       gefragt: „Bin ich jetzt tot?“ Und da sag ich: „Nein, noch nicht.“ Und sie:
       „Na gut.“
       
       Hinweis der Redaktion: dieser Text wurde im Dezember 2016 veröffentlicht,
       der Inhalt wurde bei der erneuten Veröffentlichung im April 2024 nicht
       verändert.
       
       2 Apr 2024
       
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