# taz.de -- „Räumen heißt, das Problem zu verdrängen“
       
       > Obdachlos Laut Gesetz ist das Campieren auf öffentlichen Plätzen
       > verboten, sagt Sozialarbeiter Jürgen Schaffranek von Gangway e. V. Darum
       > werden Camps von Obdachlosen geräumt. Doch nach dem Gesetz müsste die
       > Polizei auch für eine Notunterbringung sorgen
       
 (IMG) Bild: Obdachloser mit Plastikverband an den Füßen an einer Bushaltestelle am Potsdamer Platz
       
       Interview Eva Schneider
       
       taz: Herr Schaffranek, fast jeder ist schon einmal an einem Camp von
       Obdachlosen vorbeigekommen. Eine Räumung bekommt man aber eher selten mit.
       Passiert das oft? 
       
       Jürgen Schaffranek: Ja. Wir haben insbesondere in Bereichen des
       Zoologischen Gartens und des Kurfürstendamms immer wieder Beschwerden von
       sogenannten Anrainern. Die sehen teilweise ihr Geschäft in Gefahr. In
       diesem Jahr fanden unter verschiedenen S-Bahn-Brücken zwischen Hauptbahnhof
       und S-Bahnhof Charlottenburg Räumungen statt. Betroffen waren zwischen 200
       und 300 Obdachlose.
       
       Warum mussten die Menschen gehen? 
       
       Weil laut Gesetz das Campieren auf öffentlichen Plätzen verboten ist.
       Außerdem waren Beschwerden von Anwohner*innen und Geschäftsleuten
       eingegangen.
       
       Wie läuft so eine Räumung ab? 
       
       In der Regel kommen Ordnungsamt und Polizei und fordern die Leute auf, den
       Platz zu verlassen. Wenn sie das nicht tun oder nicht da sind, dann werden
       die Zelte beschlagnahmt.
       
       Wie viele Obdachlose gibt es denn in Berlin? 
       
       Die Zahl der Obdachlosen ist schwer zu erfassen. Grundsätzlich sollte man
       allen Zahlen, die einem da begegnen, misstrauen. Der Senat geht seit Jahren
       von 2.000 bis 4.000 aus, Vereine und Organisationen, die in der
       Obdachlosenhilfe tätig sind, schätzen die Zahl teilweise viel höher ein.
       
       Wovon hängt ab, ob ein Camp geräumt wird oder nicht? 
       
       Es gibt Monate, da passiert so gut wie nichts. Und dann gibt es Monate, in
       denen relativ viel passiert. Das wird immer nach politischer Notwendigkeit
       entschieden. Wenn in den politischen Entscheidungsstellen der Druck größer
       wird – zum Beispiel durch Beschwerden – kommt ein Aktionismus zutage.
       
       Wo gehen die Betroffenen nach der Räumung hin? 
       
       Sie ziehen an andere Orte in Berlin weiter. Räumen heißt einfach nur, das
       Problem zu verdrängen. Eine Gruppe von Wohnungslosen wird zerschlagen und
       verteilt sich auf mehrere andere Orte.
       
       Eigentlich müsste laut Allgemeinem Sicherheits- und Ordnungsgesetz (Asog)
       die Polizei für eine Notunterbringung dieser Menschen sorgen. Allerdings
       nur, wenn es nach eigenem Ermessen nötig ist … 
       
       Das ist genau der Punkt, da besteht eine Rechtsunsicherheit. Wenn aber
       keine Unterkunft besteht, dann muss gehandelt werden. Nehmen wir einmal an,
       die Polizei stellt fest: Es gibt keine leer stehenden Wohnungen, wo sie die
       Obdachlosen unterbringen kann. Dann müsste die Polizei die Menschen
       entweder in Hostels oder Hotels unterbringen. Auch die Präsidentensuite im
       Waldorf Astoria muss in Anspruch genommen werden – das sagt ein Gutachten,
       das sich die Pflichten der Polizei bei der Arbeit mit Obdachlosen genauer
       angeschaut hat.
       
       Was wäre mit Ferienwohnungen, die in der Regel de facto illegal vermietet
       werden? 
       
       Es gibt die Möglichkeit, Ferienwohnungen zu beschlagnahmen und Menschen
       dort unterbringen. Natürlich befristet. Dann sind sie aber zumindest erst
       einmal untergebracht.
       
       Hat die Polizei bei den von Ihnen genannten Räumungen in den vergangenen
       Monaten eine Rechtsverletzung begangen, weil sie die Menschen nicht wie
       vorgeschrieben in Notunterkünften untergebracht hat? 
       
       Wir wissen von keiner der bis zu 300 Personen, dass sie in einer
       Notunterbringung untergekommen ist.
       
       Warum wird das Asog von der Polizei nicht umgesetzt: aus Unwissenheit? 
       
       Auf der unteren Verwaltungsebene: ja. Auf der mittleren und oberen Ebene
       sind das vermutlich andere Gründe. Wenn man dort eine zweckentfremdete
       Wohnung zur Belegung durch Wohnungslose freigeben würde, würde man auf
       Konfrontation mit einer bestimmten Klientel gehen. Das wird in der Regel
       nicht so gerne gemacht. Vor allem, weil das teilweise politisch schwerer
       durchzusetzen wäre, als wenn man eine Gruppe Obdachloser, die sowieso ohne
       Lobby ist, einfach zerschlägt.
       
       In Zukunft werden die Hauseigentümer*innen und Geschäftsleute besonders in
       der City West, zu der der Kurfürstendamm und der Zoologische Garten
       gehören, einen noch größeren Einfluss auf die Straßen dort haben. Wie kam
       es dazu? 
       
       Tatsächlich wurde im Sommer ein Antrag der AG City West beim Bezirk
       Charlottenburg-Wilmersdorf durchgebracht, zwischen den U-Bahnhöfen
       Uhlandstraße und Wittenbergplatz den ersten Berliner „Business Improvement
       District“ einzurichten. Mindestens 15 Prozent der Geschäftsleute und
       Eigentümer*innen mussten dafür beim Bezirk einen Antrag stellen. Ungefähr
       doppelt so viele haben das auch getan.
       
       Was heißt das genau? 
       
       Das heißt, die Geschäftsleute und Wohnungs- oder Hauseigentümer*innen
       gestalten die Straße in ihrem Sinne. Da sich diese Maßnahme wie gesagt auf
       „Business“ bezieht, haben die Mieter*innen kein Mitbestimmungsrecht. Das
       Ganze ist also sehr undemokratisch. Zu erwarten ist, dass alles, was „den
       Konsum stört“, über subtile Maßnahmen vertrieben wird. Wohnungslose sind
       dabei die Hauptbetroffenengruppe.
       
       Welche subtilen Maßnahmen könnten das sein? 
       
       Zum Beispiel werden in diesem Bereich Bänke abmontiert, Geruchsstoffe
       versprüht oder Mülleimer in die Erde eingelassen, sodass ein Hineingreifen
       nicht mehr möglich ist. Außerdem erhalten die Geschäfte eine Berechtigung,
       private Securityfirmen für ihren Straßenbereich zu engagieren. Die wiederum
       dürfen Menschen des Platzes verweisen. Diese Form von Privatisierung von
       öffentlichem Raum ist eine alarmierende Entwicklung – auch in Bezug auf die
       demokratische Gesellschaft.
       
       Die taz hat bereits vor Jahren über einen solchen „ Business Improvement
       District“– kurz BID – in Hamburg berichtet. Was weiß man inzwischen über
       die Auswirkungen eines solchen Bezirks? 
       
       In Städten wie Paris, London und eben Hamburg hat die Einführung der BID zu
       einer enormen Verdrängung geführt. Die Mieten sind dort explodiert. Und
       dann stellt sich natürlich die Frage: Wohin sollen die Wohnungslosen gehen?
       Es steht nicht genügend Wohnraum zur Verfügung.
       
       Die BID verschärfen die ohnehin bestehenden Schwierigkeiten, Obdachlose
       unterzubringen. Welche Rolle haben die Straßensozialarbeiter*innen von
       Gangway bei der Notunterbringung? 
       
       Wir gehen zu den Stellen, die geräumt werden sollen, und fragen die dort
       lebenden Menschen nach ihren Bedürfnissen. Dann müssen wir herausfinden, ob
       es überhaupt Leistungsansprüche gibt. Leistungsanspruch haben deutsche
       Staatsbürger*innen und EU-Bürger*innen, die schon einmal in Deutschland
       gearbeitet haben. Wir fragen die Menschen dann, ob sie arbeiten wollen,
       gegebenenfalls auch, ob sie in Deutschland bleiben wollen. Und dann beraten
       wir sie über ihre Möglichkeiten. Ob ein Angebot angenommen wird,
       entscheiden dann die Betroffenen selbst.
       
       Wie groß ist Ihr Handlungsspielraum? 
       
       Handfeste Angebote können wir im Bereich Gesundheit machen, wenn es um
       Beratung, Betreuung und Erstuntersuchung geht. Zudem vermitteln wir die
       Leute an Ambulanzen, wie zum Beispiel die der Caritas oder der Malteser.
       
       Das Nutzen von leer stehenden Wohnungen und Hotelzimmern – wie Sie es
       fordern – ist eine sehr kurzfristige Lösung. Warum ist es wichtig, dass das
       Gesetz, das die Notunterbringung Obdachloser regelt, trotzdem umgesetzt
       wird? 
       
       Die kurzfristige Unterbringung kann für alles Zukünftige eine wichtige
       Rolle spielen. Denn nur, wer eine feste Meldeadresse hat, hat auch Anspruch
       auf Sozialleistungen und kann sich auf Jobs bewerben. Durch Arbeit wird
       dann eine eigene Wohnung möglich. Durch die kurzfristige Unterbringung wird
       also der Teufelskreis „Keine Wohnung – keine Arbeit“ und andersherum
       durchbrochen. Vor allem in Hinblick darauf, dass die AG City West mit den
       BID nun von der Planungs- in die Umsetzungsphase geht, wird sich die Lage
       für die Wohnungslosen in Zukunft noch weiter zuspitzen.
       
       13 Oct 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Eva Schneider
       
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