# taz.de -- „Das Stichwort lautet Geduld“
       
       > Praxis Reden statt Ruhigstellen: Martin Zinkler ist Vorreiter auf dem
       > Gebiet der zwangfreien Psychiatrie. Berlin muss noch einiges dazulernen,
       > sagt der Chefarzt aus Baden-Württemberg
       
       taz: Herr Zinkler, ist Berlin ein Nachzügler, was die
       Zwangsbehandlung angeht? 
       
       Martin Zinkler: Zeitlich ist Berlin ganz weit hinten, wenn man
       bedenkt, dass die Gesetzesänderung schon seit 2011 fällig ist. Aber
       die Bayern sind noch langsamer.
       
       Wieso gibt es in Deutschland überhaupt noch Zwangsbehandlungen? 
       
       Lange Zeit nahm man an, dass die Zwangsbehandlung die einzige Lösung
       sei. Zudem sind die gesetzlichen Kriterien dafür zu weit gefasst.
       Dabei würden viele Ärzte zu anderen Methoden wie der
       Deeskalation greifen, wenn sie die Möglichkeit zur
       Zwangsmedikation gar nicht erst hätten. Dass es nämlich auch ohne
       geht, zeigen Kliniken, die auf deeskalierende Maßnahmen setzen. Doch
       die meisten Ärzte hängen an den Medikamenten. Denn die Behandlung ist
       schneller und günstiger, wenn man einfach zur Tablette oder Spritze
       greifen darf, anstatt Gespräche zu führen.
       
       Was bedeutet Deeskalation genau? 
       
       Das Stichwort lautet Geduld. Wir müssen den Patienten signalisieren,
       dass wir uns für sie interessieren und in kritischen Situationen
       die richtigen Fragen stellen: Was könnte Ihnen jetzt guttun? Manchmal
       hilft reden, manchmal schweigen, Bewegung oder Rückzug. Wir
       verabreichen niemandem auf Zwang Medikamente. Wir raten
       lediglich dazu, sie zu nehmen. So schaffen wir von Beginn an ein
       Vertrauensverhältnis. Auch Patienten sind selbstbestimmte Menschen.
       
       Wo haben deutsche Psychiatrien Nachholbedarf? 
       
       In der Personalentwicklung. Im psychiatrischen Notfalldienst
       sollten Peers, also Menschen mit psychiatrischer Erfahrung,
       mitarbeiten. Denn das kommt bei den Patienten gut an. Wenn man sich
       in deutschen Krankenhäusern umschaut, findet man das nur an der
       Universitätsklinik in Hamburg-Eppendorf. In England gibt es
       dagegen bereits 600 Stellen. Wir müssen uns der Möglichkeit öffnen,
       von den Peers zu lernen, mit welchem Verhalten man einen Zugang zu
       psychisch kranken Menschen bekommt. Denn so kann man diese dabei
       unterstützen, Entscheidungen über ihre Gesundheit selbst zu treffen.
       Unser Ziel sollte es sein, mehr Verständnis in Notfallsituationen
       herzustellen, statt stellvertretende Entscheidungen zu fällen.
       
       Und wenn ein Patient andere Menschen angreift oder
       suizidgefährdet ist? 
       
       Dann muss man irgendeine Art von Kontakt aufnehmen. Die meisten
       erschrecken erst mal vor Verrücktheit. Da herrscht großer
       Handlungsdruck, insbesondere seitens des Personals, das den
       Patienten aus Angst lieber ruhigstellt. Stattdessen sollten wir
       probieren, eine Einigung zu erzielen, indem wir etwa auf
       Zwangsmaßnahmen verzichten, wenn der Patient sich bereit erklärt,
       erst mal eine Nacht in der Klinik zu bleiben. Unsere Erfahrung zeigt,
       dass das sehr gut klappt. Den Weg hin zur zwangfreien Psychiatrie
       müssen wir ganz gehen.
       
       Wie beurteilen Sie das neue Berliner Psychisch-Kranken-Gesetz? 
       
       Im Vergleich zum baden-württembergischen Gesetz hinkt das Berliner
       Gesetz hinterher. Sowohl in der Dokumentationspflicht als auch in
       der Behandlung. In Baden-Württemberg ist die Schwelle für
       Zwangsmaßnahmen höher, und es gibt ein verbindliches Register.
       Daran sollte Berlin sich anpassen.
       
       interview Jasmin Sarwoko
       
       11 Aug 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jasmin Sarwoko
       
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