# taz.de -- Nach dem Putschversuch: Die „neue Türkei“ zeigt ihr Gesicht
       
       > Bei einem Begräbnis demonstriert Erdoğan seine Macht. Die Nato macht sich
       > Sorgen um die Einsatzfähigkeit der türkischen Armee.
       
 (IMG) Bild: Zum Äußersten entschlossen: Autokrat Erdoğan in der Fatih-Moschee in Istanbul
       
       ISTANBUL taz | Eine eng zusammengedrängte Menge wogt am Sonntagmittag im
       Hof der zentralen Istanbuler Fatih-Moschee hin und her. Mitten darin
       Präsident Recep Tayyip Erdoğan, sein Vorgänger, Abdullah Gül, der
       abgesetzte Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu, der Bürgermeister von
       Istanbul Kadir Topbaş und mehrere Angehörige der Familie Erdoğan. Die
       Spitze der „Neuen Türkei“ ist einträchtig zusammengekommen, um sechs
       „Märtyrer“ zu Grabe zu tragen, die bei dem Putschversuch Freitagnacht
       erschossen worden waren. Das Begräbnis ist gleichzeitig eine Manifestation
       der neuen Macht.
       
       Nachdem der Imam die rituellen Worte gesprochen hat, redet Erdoğan zu
       seinen Anhängern. Die Stimmung ist aufgeheizt. Die Menge verlangt nach
       Rache. „Wir wollen Hinrichtungen“, skandiert sie, „wir wollen
       Hinrichtungen“. Erdoğan nimmt die Slogans auf: „Ja, wir hören auf die
       Stimme des Volkes. Wir werden die Wiedereinführung der Todesstrafe
       juristisch prüfen lassen. Wir sind nicht rachsüchtig, aber alle wollen
       Gerechtigkeit“.
       
       Noch einmal bekräftigt der Staatspräsident seine Auffassung über die
       Schuldigen für den versuchten Umsturz. „Die terroristische
       Fethullah-Gülen-Organisation hat den Schritt zum bewaffneten Putsch getan,
       aber das Volk hat sich ihm in den Weg gestellt. Wir werden sie nicht länger
       in unserem Land dulden.“
       
       Dann bestätigt Erdoğan, was zuvor schon sein Justizminister Bekir Bozdağ
       bekannt gegeben hatte. Mitglieder und Sympathisanten der Gülen-Bewegung in
       der Justiz und im Militär werden nun verfolgt und verhaftet. Rund 6.000
       Verdächtige, so Bozdağ am Sonntag, seien bereits festgenommen worden, „aber
       das ist erst der Anfang“. Erdoğan versichert der Menge, dass sie auch vor
       den höchsten Institutionen der Justiz nicht Halt machen werden. „Vom
       Verfassungsgericht bis zum hohen Richterrat werden die Verantwortlichen zur
       Rechenschaft gezogen“, ruft er der Menge in der Fatih-Moschee zu, „bis hin
       zu den Metastasen in allen anderen staatlichen Institutionen.“
       
       ## Die Moscheen dienen der Mobilisierung
       
       Während die Spitze der „Neuen Türkei“ in der Fatih-Moschee versammelt ist,
       harren andere Anhänger der Regierung auf zentralen Plätzen weiterer Städte
       aus. Noch eine Woche, hatte Erdoğan gefordert, sollten sie die Plätze des
       Landes besetzt halten, bis die Gefahr des Putschs endgültig gebannt ist.
       
       Tausende waren in der Nacht zu Sonntag auf dem Taksim-Platz in Istanbul,
       dem Kızılay- Platz in Ankara und in vielen weiteren Städten versammelt.
       Auch am Sonntag wurde in allen 85.000 Moscheen des Landes weiterhin zu
       dieser „Bürgerwache“ aufgerufen. Für die Mobilisierung, so scheint es, sind
       nicht mehr die Medien zuständig. Wie in alten Zeiten haben die Moscheen
       diese Rolle wieder übernommen.
       
       Dass Erdoğan nicht zu viel versprochen hat, zeigt sich in den Reihen von
       Justiz und Militär. Nach 140 Richtern wird derzeit gefahndet, berichtet die
       staatliche Nachrichtenagentur Anadolu. Bereits am Samstag wurden 2.745
       Richter und Staatsanwälte suspendiert, am Sonntag wurden all diesen
       zusätzlich noch Haftbefehle zugestellt. Sie müssen sich einzeln vor neu
       ernannten Richtern für ihre angebliche Mitgliedschaft in der
       „Gülen-Terrororganisation“ verantworten.
       
       Direkt betroffen von der noch am Samstagmorgen begonnenen Verhaftungswelle
       ist das Militär. Zwei der Chefs der fünf türkischen Armeen wurden
       verhaftet, Tausende weitere Offiziere festgenommen, nach weiteren Tausenden
       wird gefahndet.
       
       ## Nato in Sorge
       
       Fest steht, dass in Justiz und Armee nach diesem Umsturzversuch kein Stein
       auf dem anderen bleiben wird. „Jetzt passiert, was schon lange hätte
       passieren müssen“, sagte Erdoğan in der Fatih-Moschee. Das unterstreicht,
       dass ihm der Putschversuch die Gelegenheit bietet, beide Institutionen
       endgültig für die „Neue Türkei“ Erdoğans umzubauen.
       
       Den Plan dafür gab es schon zwei Wochen vor dem Putschversuch. Da hatte die
       AKP im Parlament ein Gesetz durchgebracht, nach dem alle fünf obersten
       Gerichte aufgelöst, die amtierenden Richter suspendiert und bei jedem
       Einzelnen geprüft werden soll, ob er sein Amt fortführen kann. Offizielles
       Ziel des Gesetzes: Anhänger der „terroristischen Gülen-Bewegung“ aus den
       Justizorganen zu entfernen. Jetzt nimmt die Säuberung der Justiz noch einen
       weit größeren Umfang an.
       
       Die Justiz war im Jahr 2000 durch eine Verfassungsänderung ein erstes Mal
       auf Linie gebracht worden. In der Armee hatten sich aus Sicht von Erdoğan
       trotz der Säuberungswellen 2007/2008 viele traditionelle Kemalisten halten
       können, die mit der „Neuen Türkei“ nicht vereinbar sind. In den letzten
       zwei Jahren gab es Berichte, laut denen die Armee Forderungen von Erdoğan
       und Davutoğlu, sich stärker im Syrienkrieg zu engagieren, abgelehnt hatte.
       Wohl auch für diese Widerständigkeit muss sie jetzt bezahlen. Nicht
       zufällig ist Brigadegeneral Adem Huduti, der das Militär entlang der
       Grenzen zu Syrien und Irak kommandierte, unter den Festgenommenen.
       
       In der Nato macht sich die Sorge breit, ob die türkische Armee in naher
       Zukunft noch einsatzbereit ist. Der frühere kanadische Militärattaché in
       Ankara, Chris Kilford, schrieb: „Egal wie loyal die neu eingesetzte
       Militärführung gegenüber Erdoğan und der Regierung zu sein scheint, die
       Beziehungen zwischen Regierung und Armee sind auf immer zerbrochen.“
       
       17 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jürgen Gottschlich
       
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